Die falsche Frau
Gurgel?
Impulsiv tippte Vera auf ihr Handy ein und wählte Brits Nummer.
»Brit?«
Ihre Zunge hatte die Flocken in warmes Wasser verwandelt.
Der Schnee schmeckte nach Dreck.
»Alles in Ordnung, Kindchen?«
»Tschuldigung. Schläfst du schon?«
Brit gähnte. Aber als sie den Namen François Satek hörte, war sie plötzlich hellwach. »Satek? Das wird noch der Mann des Jahres, Vera. Steig doch bei ihm ein. Spionier in seinen Sachen rum.«
Veras Herz klopfte schneller.
»Manchmal kommen die wildesten Dinge zum Vorschein. Kleine Päckchen Koks zum Beispiel.«
»Bist du bekloppt?«
»Ach, wer weiß! … Habt ihr … ich meine … habt ihr eigentlich schon … gefickt?«
Vera lachte hysterisch. »Bist du blöd?«
Wie immer steckte sie ihre Freundin mit einem gurgelnden Ton an, der zuerst tief und heiser aus ihr hervorquoll und sich steigerte, bis sie keine Luft mehr bekam.
Dann knallte sie einen Kuss in ihr Handy und machte sich auf den Weg.
Brit war super.
Forschen statt ficken, na logo.
Aber zuerst würde sie ganz normal in ihre Wohnung gehen, eine Trommel Wäsche waschen, das Futter für Ben vorbereiten und in aller Ruhe nachdenken.
Vera sah auf die Uhr. Blödsinn, es war halb drei. Warum wollte sie ausgerechnet um halb drei Uhr in der Nacht Wäsche waschen? Sie konnte hier nicht länger rumstehen. Es war kalt. Wenig später quetschte sie sich mit ihrem Wagen zwischen zwei Lieferwagen.
Die Frage war, wie man am besten in eine fremde Wohnung kam? Sollte sie behaupten, dass sie sich ausgeschlossen hatte, den Schlüsseldienst rufen und irgendeine Geschichte erfinden? Vera blieb in ihrem Taxi sitzen. Vor ihr ein hoher Turm toter Fensterreihen. Ihre Augen liefen sechs düstere Stockwerke rauf, runter und wieder rauf. Keine flach gedrückten Kissen, keine Ellenbogen auf dem Fensterbrett, niemand, der die Straße beobachtete wie tagsüber. Und doch hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden.
Ein Auto fuhr langsam vorbei und bog etwa zwanzig Meter weiter in eine Einfahrt ein. Veras Herz hämmerte. Jetzt gab es kein Zurück. Im zweiten Stock ging plötzlich das Licht an. Die alte Hager kann nicht schlafen, dachte Vera. Dann war es wieder dunkel.
Vera stieg aus dem Wagen, drückte leise die Tür ins Schloss und lauschte dem nervtötenden Geräusch ihrer eigenen Absätze, das an das Schütteln eines Würfelbechers erinnerte.
Scheiße, er hätte mich erschießen können, durchfuhr es sie. Er hätte mich einfach umlegen können. Dicht vor dem Haus war ihr dieser seltsame Mann aber schon so vertraut wie ein böser Traum, der sich bis zum Aufwachen doch noch ins Gute wenden konnte.
Himmel oder Hölle?
Im ersten Stock war das Fenster gekippt. Vera spürte ein Prickeln im ganzen Körper. Ein weißer Arm streckte sich ihr entgegen, und ein deutliches Flüstern war zu hören. Ich bin übergeschnappt, dachte sie, total übergeschnappt.
Natürlich, sie würde in seine Küche einsteigen. Vera hätte am liebsten einen Schrei ausgestoßen, so euphorisch war sie.
Keine dummen Gedanken mehr, dachte sie, um sich zu beruhigen.
Wenige Schritte entfernt lauerten schwarze Mülltonnen. Eine davon hatte das Maul nur leicht geöffnet. Na warte, dachte Vera, ging auf die Tonne zu und stemmte sich mit beiden Armen auf den Deckel.
Gelbe Flüssigkeit quoll aus einer Pappschachtel, die obenauf lag. Es stank. Vera hielt die Luft an und zog das Ding in Richtung Fenster. Jetzt aber. Eins. Zwei. Bei drei blieb ihr ein Lachen in der Kehle stecken. Sie kam da nicht rauf, war wie ein Mehlsack, völlig ungelenk, zu blöd, um auf eine Tonne zu steigen. Doch, doch, dachte sie, schön langsam und hatte es irgendwann geschafft. Sie schob den rechten Ärmel ihres Mantels hoch und griff mit der Hand durch den Fensterspalt. Sie musste nur den Hebel von innen nach unten bewegen. Normalerweise ging das kinderleicht, jedenfalls war das früher so, wenn sie bei sich zu Hause einsteigen musste, weil der Schlüssel von innen stecken geblieben war.
Ihre Fingerspitzen tippten den Hebel ein Stück zur Seite. Aber was war das? Vera rutschte plötzlich ab und verlor den Kontakt.
Hinter ihr bremste ein Auto, sie hörte laute Bässe aus einem Radio. Scheinwerferlicht blendete auf.
Schnell kauerte sie sich auf der Tonne zusammen, dann wurde es wieder dunkel. Vera kam wieder hoch und begann wie immer, wenn sie nicht weiter wusste, in ihrer Umhängetasche zu wühlen.
In wundersamen Untiefen, zwischen Tageszeitung, Haarbürste, Lippenstiften, CDs und einer
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