Die falsche Frau
Mädchen in blitzblanken Lackschuhen, hellblauen Strumpfhosen mit einem Luftballon in der Hand lächelte sie an. Das Mädchen hatte vom Blitz die Augen zusammen gekniffen. Vera drehte das Foto um. Yvonne. 27. Oktober 2003. Dann noch eins. Das Mädchen auf den Armen eines jungen Mannes. Und noch eins. Das Mädchen auf dem Schoß von François, der ihr vorlas. Dieselbe ausgeprägte Nase, dasselbe dunkle Haar, dieser traurige Gesichtsausdruck, der etwas Erwachsenes an sich hatte.
Warum hatte er nichts von seiner Tochter erzählt?
Eine Lade tiefer fand sie schließlich ein lose eingewickeltes Geschenk.
Ein Zauberkasten! Ein magischer Kompass, bunte Ketten und ein orientalisches Perlenspiel. Vera hielt Dr. Jak’s Taschenuhr in die Luft. Was hatte sie hier noch verloren? Schnell packte sie alles wieder zurück und wollte los. Sie hatte nichts Verdächtiges gefunden. Sie würde diesen schmierigen Typen ausfindig machen, keine Frage.
Mit dem Kopf an den Türrahmen gelehnt, hielt Vera inne. Ihr Blick fiel auf das Telefon. Die Stimme auf dem Anrufbeantworter. Der alte Sack! Aber wo war dieses verflixte Ding?
Vera stutzte und drückte auf verschiedene Tasten. Da. Zwei neue Nachrichten. Die hatte noch niemand abgehört? Integrierter Anrufbeantworter. Wahrscheinlich kannte sich François nicht aus mit dem Ding. Komm schon, dachte sie, hatte endlich den richtigen Knopf erwischt und konnte kaum abwarten, bis die Kassette an den Anfang spulte.
Zuerst der Fleischer aus der Reinprechtsdorfer Straße. Der alte Sack hatte doch tatsächlich Pferdefleisch bestellt. Igitt!
Dann eine helle, mädchenhaften Frauenstimme.
Hier ist Irene. Bist du da?
Ich …du … hast nicht mal eine Nummer von mir … wenn du mich Wiedersehen möchtest, frag einfach Karl. Karl ist Barkeeper im Orient.
17
I RENES W ORTE in der Hosentasche, raste Vera ins Hotel Orient.
Sie wusste, dass sie ein wichtiges Beweisstück mitgehen ließ, und eigentlich hatte sie sich vorgenommen, sofort mit Semir zu reden. Aber dann wollte sie die Sache doch lieber allein durchziehen. Veras Herz machte einen Minisalto.
Jetzt war sie dran, und der Anfang einer Titelstory begann sich in ihrem Kopf festzusetzen.
Frau zu Tode geliebt …
François? Ob er diese Irene tatsächlich geliebt hatte? Klar, eine Hure in Not, mein Gott, das war ungeheuer sexy. Doch wer, zum Kuckuck, war Irene Orlinger? Sicher vollkommen jenseitig und garantiert lustlos. Welche Hure hat schon Lust zu ficken?
Das letzte Stück kuppelte Vera aus und stellte den Motor ab. Lautlos glitt der Wagen den Tiefen Graben runter. Exakt vor dem Hotel trat sie auf die Bremse und parkte ein.
Der Schuppen sah ja total verschlafen aus. Vera lief am Portier vorbei und inspizierte die Bar.
Rosarot geblümt, irgendwie kuschelweich. Auf den Tapeten räkelten sich fette Nackte, und überall diese vielen kitschigen Leuchter.
Ein bisschen verruchter hätte es ruhig sein können.
Hinten in der Ecke ein Paar. Er steckte ihr die Zunge in den Mund, sie schob die Zunge wieder raus. Vielleicht schmeckte er ihr nicht, dachte Vera und sah sich nach dem Barkeeper um.
Die Frau rief nach Scotch mit Eis.
Niemand antwortete. Vera spähte hinter die Theke.
»Karl?«
Aha, der Barkeeper hockte unter der Bar und nippte an einer Flasche.
»Morgen«, sagte sie und beugte sich zu ihm runter. »Kann ich noch was haben?«
»Scotch auf Eis«, lallte die Frau wieder, inzwischen dicht neben ihr. »Hast du gehört, du?«
Der Barkeeper kam hoch und machte ein gelangweiltes Gesicht.
»Schichtwechsel, Leute. Ich muss los.«
»Geben Sie der Frau doch noch ‘n Drink«, versuchte es Vera wieder. »Bitte!«
Karl stutzte.
»Und Sie, Gnädigste?«, fragte er näselnd.
»Ich will eigentlich nur was fragen. Ich …« Vera schälte sich aus ihrem Dufflecoat.
»Was fragen?«
Dann goss er endlich den Scotch ein. Der Typ war ganz schön borniert. Nur nicht aufhören zu reden, dachte sie und beobachtete stattdessen, wie sich der Kerl pathetisch an die Stirn fasste.
»Na dann fragen Sie«, sagte er zu ihrer Überraschung. Der Mann klopfte sich wichtig ein paar Fusseln vom Jackett. »Weil Sie wissen, wer ich bin.«
»Ich … ähm …«
Vera schüttelte ihre dunklen Locken. »Ich habe ihren Namen von Irene Orlinger«, sagte sie.
Der Mann schwieg.
Vera beugte sich nach vorne und sprach so leise sie konnte. »Vor ihrer Ermordung hat Irene noch von Ihnen gesprochen. Und Sie, Herr Karl, Sie waren der Einzige, dem sie im Orient vertraut hat.
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