Die falsche Frau
zu erzählen?«, fragte Sarah vorsichtig. »So natürlich ist das nicht.«
Sie wusste, dass sie auf diese Bitte, so zaghaft sie sie auch vorgetragen hatte, eine Abfuhr bekommen konnte.
Die Frau neben ihr schwieg. Dann drückte sie die Zigarette aus und zündete sich gleich darauf die nächste an.
Wie viele Illusionen musste diese Frau schon begraben haben. Was gab ihr noch Hoffnung?
»Ihre Tochter war doch BWL-Studentin, hatte sie das denn nötig?«
Helene Orlinger sah sie an. Ihre zu Strichen gezupften Augenbrauen zuckten. Langsam erhob sie sich und wollte gehen.
»Bitte bleiben Sie«, sagte Rosen und ergriff ihre Hand. »Dass ich Sie heute, am Tag des Begräbnisses, mit Fragen quälen muss, das fällt mir schwer.«
Sarah Rosen war hilflos. Sie hatte zu einer Binsenweisheit gegriffen und fühlte, dass sie so nicht weiterkam. Außerdem war sie viel zu betroffen.
»Wissen Sie, dass Ihre Tochter gegenüber einem Verdächtigen, womöglich ihrem letzten Freier, eine seltsame Bemerkung gemacht hat?«
Helene Orlinger lachte gekünstelt.
»Bettgeflüster? Das nehmen Sie doch wohl nicht ernst. Freiern erzählt man viel, wenn die Nacht lang ist.«
Hatte sie richtig gehört? Freiern erzählt man viel!
Sarah befeuchtete ihre Lippen und kämpfte mit dem nächsten Satz. »Irene soll gesagt haben, dass sie … dass sie von ihrem Vater eine große Summe Geld zu erwarten habe und aus dem Geschäft aussteigen würde. Sie sagte, dass sie die Tochter eines Millionärs sei.«
»Die Tochter eines Millionärs?«, wiederholte Frau Orlinger.
Sie ließ sich auf die Bank zurückfallen.
»Wann … wann hat sie das gesagt?«, fragte sie und umklammerte ihre Handtasche, eine Tierfellimitation, die auf ihrem Schoß thronte wie ein Schoßhund.
»Damals, in der Mordnacht. Es gibt eine Aussage darüber. Von François Satek. Der Mann, mit dem Irene zuletzt gesehen worden ist.«
Sarah beobachtete sie. In ihren wässrigen Augen spiegelte sich ohnmächtige Trauer. Sollte sie jetzt direkt werden? Sarah begann vorsichtig.
»Was für ein Verhältnis hatte Ihre Tochter denn zu ihrem Vater?«
Einen weiteren Anstoß brauchte Frau Orlinger nicht. Sie stellte ihre Tasche neben sich und beugte sich vor.
»Das alles ist meine Schuld.« Dann brach sie in ein furchtbares Schluchzen aus. Dazwischen schnappte sie immer wieder nach Luft und beruhigte sich erst wieder, als Sarah sie vorsichtig berührte.
»Irene sollte es mal besser haben als ich«, sagte sie. »Sie war immer so ein eigensinniges Ding, wollte sich nichts sagen lassen, schon gar nicht von ihrem Vater. Dabei war sie so begabt, konnte Geschichten erfinden und schon mit fünf lesen.«
Helene Orlinger zuckte mit den Achseln, als wäre das, was nun folgte, gänzlich unwichtig.
»Mein Mann ist cholerisch, müssen Sie wissen.«
»Hat er sie geschlagen?«, fragte Sarah.
Ein irres Lächeln huschte über das Gesicht der Frau. Dann nickte sie.
»Ich bin damit einigermaßen zurechtgekommen. Irene weniger. Sie hat immer so gezittert hinterher, als ob sie Fieber hätte und kam danach nur schwer wieder zu sich.«
Sarah fühlte, wie in ihr Wut hochstieg. Dieser kleine sadistische Zug um den Mund von Helene Orlinger war ihr nicht entgangen. Mütter, die ihre Töchter auf dem Gewissen haben, gab es zur Genüge.
Wie viele Frauen, die in gewalttätigen Verhältnissen lebten, hatte auch Helene nicht die Kraft gehabt, sich mit Irene aus dem Staub zu machen, um ein neues Leben anzufangen.
»Er wollte nicht, dass sie sich schön machte, lief ihr nach und riss ihr die Kleider vom Leib. Er wollte sie nicht studieren lassen und hat sich ihr in den Weg gestellt, wo er nur konnte. Sie durfte auf keine Party, keine Freunde haben, gar nichts.«
»Und Sie, konnten Sie ihr nicht helfen?«
»Wie denn? Ich hatte nichts zu sagen. Wir waren doch völlig abhängig. Ich habe es bisher keinem Menschen erzählt. Ich habe mich immer so geschämt.«
»Wofür haben Sie sich geschämt?«, fragte Rosen.
Frau Orlinger schnäuzte sich ein paarmal in ein Taschentuch und redete weiter.
»Es war eines Abends beim Essen. Wir waren gerade beim Nachtisch, da stand Irene auf, um sich ein Glas Milch zu holen. Sie sagte, sie bekäme höllische Kopfschmerzen und müsse sich hinlegen. Nach fünf Minuten kam sie zurück, drückte mir wortlos einen Umschlag in die Hand und verschwand wieder. Mein Mann wollte sofort wissen, um was es ging. Ich sagte, etwas vom Frauenarzt, Dinge, die ihn nicht betreffen würden, und
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