Die falsche Frau
merkwürdigerweise gab er sich zufrieden damit.
Als ich allein in der Küche war, und er vor dem Fernseher saß, öffnete ich den Umschlag. Ich traute meinen Augen nicht. Irene musste heimlich in meinen Sachen gewühlt haben, hatte alte Briefe und Fotos gefunden, die mich mit einem Mann zeigten. Es war Marian, ihr leiblicher Vater, von dem ich mich noch während der Schwangerschaft getrennt hatte und von dem ich noch eine ganze Weile Geld kassierte. Irene kannte ihn gar nicht. Er wusste, ich würde reden, wenn er nicht zahlte, und so kamen wir einigermaßen über die Runden.«
»Was hatten Sie gegen ihn in der Hand?«, fragte Sarah.
»Marian ließ Mädchen für sich arbeiten. Alle aus dem Osten. Er hatte ganze Schlepperbanden angeheuert, um die Mädchen nach Wien zu schleusen, und ich, ich war eine von ihnen.«
Helene Orlinger hielt sich die Hände vors Gesicht. Dann löste sie die Spange und ließ die Haare nach vorne fallen.
»Haben Sie beide darüber geredet?«
»Irene und ich? Hätte ich ihr sagen sollen, dass sie ein Hurenkind ist? Sie war gerade in einem schwierigen Alter.«
Helene Orlinger hatte sie flehend angesehen.
Sarah schwieg. Sie war darauf gefasst gewesen, dass ein Familiendrama ans Licht kommen würde, aber das hier, das war mehr. Das war ein Skandal.
»Es folgten Tage, an denen sie sich nicht mehr zu Hause blicken ließ«, fuhr Frau Orlinger fort. »Aus meinem kleinen, anhänglichen Mädchen war eine junge Frau geworden, die mich nur noch mit funkelnden Augen ansah und mich zutiefst verachtete. Das ging so über ein Jahr lang. Wenige Wochen nach ihrem achtzehnten Geburtstag aber war sie plötzlich wie ausgewechselt und genauso lieb wie früher. Da hatte sie es dann das erste Mal für Geld getan und es mir brühwarm erzählt. Mein Mann hat davon natürlich nichts mitbekommen. Wir waren sowieso die meiste Zeit allein.«
Sarah stutzte.
»Sie meinen, sie war stolz darauf, ihren Körper zu verkaufen?«
»Nein, das Geld war ihr egal. Der Sex, glaube ich, auch. Das Einzige, was sie im Kopf hatte, war Gerechtigkeit. Sie war geradezu besessen von dem Wunsch nach Wiedergutmachung und verwickelte mich nächtelang in Gespräche, wie sie den Mädchenhandel ihres Vaters auffliegen lassen wollte. Irgendwann war ich so weit. Ich wollte, dass sie Marian um eine Million erpresste. Sie hatte genug in der Hand gegen ihn, kannte sich aus im Milieu, wusste, wer zu seinen Männern gehörte und wie die Schlepperbanden arbeiteten. Sogar in seine Drogengeschäfte hatte sie Einblicke gewonnen, und die Sache schien sicher.«
Helene Orlinger krallte die Finger ineinander.
»Vor etwa einer Woche war sie bei ihm. Es war das erste und das letzte Mal, dass dieses … Schwein seine Tochter gesehen hat.«
»Denken Sie, was ich denke?«, fragte Sarah Rosen.
»Sie meinen, dass Marian der Mörder ist? Ich weiß es nicht«, sagte Helene Orlinger, plötzlich sichtlich erleichtert. »Das übersteigt ganz meine Vorstellungskraft.«
Dann bekreuzigte sie sich schnell wie nach einer Beichte.
»Gott gibt mir die Gelassenheit, die Dinge zu akzeptieren, die ich nicht ändern kann, und die Weisheit, den Unterschied zu erkennen«, sagte sie und ging ihrem Mann entgegen, der Seite an Seite mit Bruno Karlich die Hauptallee herunterspazierte und sich mit einem freundlichen Kopfnicken der Bank näherte.
Eine Tochter, die sich für das verpfuschte Leben ihrer Mutter opferte. Und ein Vater, der sie gegen Geld auslöschen lässt.
»Mein Beileid«, sagte Sarah Rosen und schlug in die Hand eines Mannes ein, der nicht gerade den Eindruck machte, dass ihn das, was geschehen war, aus der Bahn geworfen hatte.
»Danke«, sagte Manfred Orlinger. Dann griff er nach den zwei Taschen seiner Frau, die sich vor einem Taschenspiegel die Lippen nachzog, und hatte es eilig, sich zu verabschieden.
»Die Trauerfeier findet im Bergwirt statt«, sagte er im Gehen.
»Drehen wir noch eine Runde im Karmeliterviertel. Oder musst du zurück ins Präsidium?«
»Das muss ich«, sagte Bruno höflich. »Reden wir im Auto?«
Sarah nickte, stieg ein und erzählte. Den ganzen Familienroman. Von A bis Z. Aber ihr Freund, der immer schweigsamer wurde, schien gar nicht richtig zuzuhören.
»Was denkst du über Patrizia?«, fragte Sarah ungeduldig.
»Ach, die kommt als Täterin überhaupt nicht in Frage! Dass die mit einem falschen Geständnis rausplatzen musste, liegt doch auf der Hand.«
»Auf der Hand? Wenn das alles so einfach ist? Wozu bin ich eigentlich
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