Die falsche Frau
schwarzer Mantel stand offen, ein hochgeschlossenes Kleid aus Samt kam zum Vorschein.
Als sie in Augenhöhe mit Sarah Rosen war und kurz stehen blieb, ging ein Beben über ihre Lippen, aber sie sagte nichts, versteckte nur wieder die Hände in ihrem Muff und ging weiter.
Der Leichenzug bog nach rechts ab. Er bewegte sich einen breiten Weg entlang, der den Friedhof in zwei Hälften teilte. Im vorderen Teil, links und rechts, ragten die großen Grabsteine der Familiengräber. Dahinter waren die weniger teuren Steine, die Gräber der Angestellten, Bürger, die sich die Eleganz und Bedeutung dieser Stätte leisten wollten und schon über Generationen einen Pachtvertrag auf der abschüssigen Seite des Friedhofs weitervererbten.
Hier, fast am Ende der Ruhestätte, wurde auch Irene Orlinger begraben.
Der Priester öffnete sein Messbuch. Seiten flatterten im Wind.
»Asche zu Asche.«
Patrizia stand neben Frau Orlinger, die mit tränenüberströmtem Gesicht an der Seite ihres Mannes auf die Seile starrte. Ihre Tochter sank Zentimeter für Zentimeter tiefer.
»Staub zu Staub.«
Der Priester strich die Seite glatt und sah kurz auf, als ein verzweifeltes Nein über die Lippen der Mutter kam. Sarah wusste, dass sie in ihrem Alter sein musste. Ihre welligen Haare, die ihr bis auf die Schultern fielen, waren am Hinterkopf von einer breiten Spange aus Horn zusammengehalten, der dunkle lange Rock, der ihr bis zu den Knöcheln ging, schloss mit einem ebenso langen Mantel ab, der auf Taille geschnitten war.
Die folgenden Handlungen, die kleinen Schaufeln Erde auf den Sarg, das Werfen von Blumen, das Vaterunser, das leise gesprochen wurde, verliefen wie in Zeitlupe.
Sarah musterte die Trauergäste. Grell blondierte Mädchen in Lackstiefeln, wahrscheinlich Kolleginnen, Männer in Nadelstreifen, andere in dunklen Hosen und Windjacken, die aussahen wie Studenten. Zwei alte Frauen mit falschen Perlenketten. Alles in allem eine stattliche Ansammlung von Menschen, die um Irene trauerten. Niemand, der hier stand und die Augen senkte, wirkte verdächtig.
Der Pfarrer wollte gerade die Hände zum Segen erheben.
Ein dumpfer Aufprall. Dann ein durch Mark und Bein gehendes »NEIN!«
Frau Orlinger war am Grab ihrer Tochter zusammengesunken und vergrub das Gesicht in ihren Händen.
Plötzlich hob sie ihren Kopf und rief in die helle Sonne. »Ich habe sie umgebracht. Ich …!«
»Nein, ich hab sie umgebracht«, tönte es leise, aber deutlich genug.
Es war Patrizia Heral, deren Stimme selbst noch im gedämpften Zustand durchdringend war. Sie hatte feierlich ihren Hut abgenommen und war dabei, Frau Orlinger wieder auf die Beine zu helfen.
»Ich bin schuld«, sagte sie.
In ihrer Stimme klang Selbstverachtung. Dann sah sie sich um, als erwartete sie eine Antwort, irgendeine Bemerkung, aber die Leute, die im Halbkreis standen, machten nur betretene Gesichter. Einige fingen an zu tuscheln und strafften verlegen ihre Kleidung.
»Lassen Sie mich durch!«, rief Sarah Rosen.
Frau Orlinger lag inzwischen in den Armen ihres Mannes. Patrizia stand allein da. Ihre Zähne bearbeiteten einen Fingernagel. Sarah spürte vor Nervosität einen beißenden Geschmack auf der Zunge, ging aber auf sie zu.
»Woran sind Sie schuld, Patrizia?«, fragte sie laut und für jedermann hörbar.
Wildes Kopfschütteln.
Sarah schwieg und wartete.
Die violetten Schatten unter Patrizias Augen ließen sie gespenstisch aussehen.
»Am Tod meiner Mutter«, hauchte Patrizia schließlich.
Ihr Blick wanderte von Sarahs Gesicht irgendwo hinter ihren Rücken, dann löste sie sich mit einem Ruck aus der Umklammerung und lief so schnell sie nur konnte, den Hut in der Hand, über die Gräber davon. Sarah stürzte hinterher, war aber zu langsam und machte nach ein paar Metern keuchend an einer großen Buche halt.
Patrizia, ein schwarzer Vogel, der dicht über der Erde flog und Stück für Stück als dunkler Punkt am Horizont verschwand, war bald nicht mehr zu sehen.
Sarah brauchte Zeit, um wieder zur Ruhe zu kommen, und sah hoch in den Himmel. Ein leichter Dunstschleier hing in den Bäumen. Darüber strahlendes Blau.
Sarah Rosen fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Dann ging sie langsam zurück.
Hatte sich hier gerade eine Schlüsselszene abgespielt? Eine Szene, die Vergangenheit und Gegenwart ihrer Patientin miteinander verknüpfte? Der Unfall ihrer Eltern, an dem sich Patrizia seit ihrer Jugendzeit so schuldig fühlte, war also Schreck- und Wunschbild zugleich gewesen.
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