Die falsche Frau
kommt sie zurück und beginnt schon eine Woche später ein Praktikum
am Uniklinikum. In der Allgemeinen Psychiatrie. Sie sehen, es ist nicht ihre
Art, Zeit zu verschwenden. Das war alles präzise geplant. Ich habe übrigens die
Karten und Briefe lesen dürfen, die sie ihrer Lehrerin von unterwegs geschickt
hat. Sie muss in Indien viel Elend gesehen haben. Anfangs klang sie erschüttert,
aufgewühlt, am Ende nur noch empört. Losgefahren ist ein völlig unpolitisches,
neugieriges Mädchen. Zurück kam elf Wochen später eine junge Frau voller Zorn.
Dort, in der Klinik, lernt sie gleich am ersten Tag Wolfram Helms kennen. Sie
verliebt sich in ihn â¦Â«
»Der Name sagt mir nichts.«
»Helms war auch nur eine Randfigur. Er hatte in Heidelberg studiert
und schon während seiner Studentenzeit Kontakte zum Sozialistischen
Patientenkollektiv. Später ist er nicht in den Untergrund gegangen wie viele
andere der Gruppe, sondern hat als Arzt am Klinikum gearbeitet. Ihre ehemalige
Deutschlehrerin sagte mir, sie habe Judith unmittelbar nach der Rückkehr von
ihrer groÃen Reise getroffen, in der Lebensmittelabteilung vom Kaufhof. Damals
sei sie noch ganz die liebe und offene Judith gewesen, die sie kannte. Nachdenklicher
und gereifter, aber ansonsten unverändert. Ein halbes Jahr später hat sie sie
noch einmal getroffen und fand ihre ehemalige Schülerin völlig verändert.
Bitter, geradezu streitsüchtig sei sie auf einmal gewesen. Die Beziehung zu dem
fünfzehn Jahre älteren Helms dauert knapp drei Jahre. Dann stirbt er völlig
überraschend an einem Hirnaneurisma. Daraufhin beschlieÃt Judith, nicht, wie
ursprünglich geplant, Kinderärztin zu werden, sondern Hirnchirurgin.«
Ich stand auf, trat an eines der Fenster, blieb dort mit dem Rücken
zur Fensterbank stehen, nur zwei Schritte von meiner Bürogenossin entfernt. Die
Sonne wärmte mir den Rücken. Meine Erkältung hatte sich im Lauf der letzten
Stunden so stark gebessert, dass ich sie schon fast vergessen hatte.
»Und weiter?«
»Es dauert nur noch einige Monate, dann ist sie weg. Ihr Zimmer ist
geräumt, der Fiat verkauft, Judith selbst spurlos verschwunden. Was dann
geschah, liegt auf langen Strecken im Nebel. Wir vermuten eine Beteiligung am
Mord an Ernst Zimmermann, dem damaligen Chef der MTU.«
»MTU ist ein Rüstungskonzern, richtig?«
Helena Guballa sah an mir vorbei aus dem Fenster, mit ihren Gedanken
jetzt weit in der Vergangenheit. »Möglich, dass sie selbst geschossen hat. Das
war fünfundachtzig. Sechsundachtzig, beim Sprengstoffanschlag auf Karl Heinz
Beckurts wieder dasselbe. Wir vermuten, dass sie auch da beteiligt war, es gibt
aber keine Beweise. AnschlieÃend war fast drei Jahre Ruhe. Wir wissen heute,
dass sie sich in dieser Zeit in der DDR versteckt hielt, mit Unterstützung des
MfS. Neunundachtzig, beim Anschlag auf Herrhausen ⦠der Name ist Ihnen
bekannt?«
»Der damalige Vorstandschef der Deutschen Bank.«
»Damals konnten erstmals DNA-Spuren sichergestellt werden, die von
Judith stammen. An dem Fahrrad, das zur Bombe umgebaut war. Und da haben wir
übrigens zum zweiten Mal das Stichwort: Sprengstoff.«
»Es war zu wenig«, warf ich ein. »Das, was in dem Haus explodiert
ist, hätte nie und nimmer gereicht, um ernsthaften Schaden anzurichten.»
»Ich denke, Sie liegen richtig mit Ihrer Vermutung. Sie hatten vor,
damit zu experimentieren. Irgendwo wird ein Depot existieren, wo der
eigentliche Sprengsatz versteckt ist.«
Durch das gekippte Fenster kam angenehm kühle Herbstluft herein. In
der Ferne quietschte eine StraÃenbahn um eine Kurve. Helena Guballa betrachtete
ihre Knie.
»Ich kann einfach nicht glauben, dass sie bei dem Brand ums Leben
gekommen ist«, sagte sie.
»Wieso nicht?«
Ratlos hob sie die Schultern. Die Hände mit den etwas zu kurzen
Fingern lagen immer noch entspannt und absolut symmetrisch auf den
Oberschenkeln. »Es passt nicht zu ihr. Es ⦠Ich spüre, dass sie lebt. Dass sie
in der Nähe ist.«
Ich schwieg.
Sie starrte nach unten.
»Ich weiÃ, das klingt für Sie nicht überzeugend«, sagte sie
schlieÃlich.
»Nein«, gab ich zu und räusperte mich.
Für einige Sekunden herrschte betretene Stille. Vor dem Fenster
zwitscherten aufgeregte kleine Vögel.
SchlieÃlich fuhr sie fort: »Beim Herrhausen-Anschlag war sie
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