Die falsche Frau
Von
Anna-Katharina Hagenow, der Mutter des verschwundenen Studenten. Und plötzlich
wurde mir klar, was mich vorhin an dem Namen irritiert hatte: Peter war ihr
Sohn aus erster Ehe. Vermutlich führte er den Nachnamen seines Vaters.
Mein Versuch, die Mutter per Telefon zu erreichen, scheiterte an
einem Anrufbeantworter. Ich beschloss, dass dieses Detail im Moment nicht so
wichtig war.
Gegen halb zehn wurden die Pausen in Helena Guballas Tipperei immer
länger, und sie begann, Unsinn zu reden. Um zehn schickte ich sie in
energischem Ton nach Hause, und zu meiner Ãberraschung fügte sie sich, als
hätte ich ihr etwas zu befehlen.
Sönnchen hatte mir inzwischen ein dünnes Dossier vom BKA gebracht,
Abu Thala betreffend, alias David Hinrichs. Geboren und aufgewachsen war er in
Delmenhorst. Nach der mittleren Reife hatte er bei einem Kaufhaus in Bremen
eine Ausbildung zum Schauwerbegestalter begonnen. Dort hatte er rasch einen
Freund gefunden, Selim Coscun, einen jungen, lebenslustigen, in Deutschland
geborenen Türken. Die beiden waren bald unzertrennlich gewesen, hatten
allerhand altersgemäÃen, meist harmlosen Unsinn angestellt.
Doch irgendwann musste irgendetwas geschehen sein, denn praktisch
von einem Tag auf den anderen, ohne jede Vorwarnung, war Hinrichs nicht mehr
zur Arbeit erschienen. Man forschte nach und stellte fest, dass er mit
unbekanntem Ziel verreist war. Auch Selim Coscun war plötzlich nicht mehr
auffindbar. Bekannte behaupteten später, er habe seinen deutschen Freund einige
Male in die Moschee mitgeschleppt, die er selbst zuvor eher unregelmäÃig
besucht hatte. In den Monaten vor ihrem Verschwinden hatten die beiden ihre
Kontakte zu Freunden und Familien mehr und mehr vernachlässigt.
Und nun war Hinrichs also in Afghanistan oder Pakistan, hatte dort
vermutlich eine Ausbildung an der Waffe genossen, und was man als angehender
Talibankämpfer sonst noch lernen muss, und war im Begriff zurückzukehren, um
den amerikanischen Wirtschaftsminister zu töten.
Hatte er eine Chance? Bei Licht besehen: nein. Das Palace-Hilton
würde sich für die Zeit der Tagung in eine Festung verwandeln. Mit einem
Sprengstoffgürtel oder einer MP unter der Jacke dort hineinzuspazieren, war
völlig unmöglich, und selbst wenn, dann würde der Betreffende noch zwei weitere
Kontrollen passieren müssen, um die Minister auch nur von ferne zu sehen.
Kritisch waren nur die Zeiten, in denen Henderson sich auÃerhalb des Hotels
bewegen würde.
Obwohl die Medien inzwischen täglich über das bevorstehende
GroÃereignis berichteten, war über den geplanten Ablauf bisher so gut wie
nichts an die Ãffentlichkeit gedrungen. Dass der Amerikaner am zweiten Tag
unbedingt das Heidelberger Schloss besichtigen wollte, würde bis zur letzten
Minute geheim bleiben. Und selbst im Schlosshof hatte ein Attentäter, sollte er
sich zufällig dort aufhalten, keine Chance, an Henderson heranzukommen. Am
kritischsten waren nach Einschätzung aller Verantwortlichen die Fahrten von
Frankfurt nach Heidelberg und zwei Tage später wieder zurück.
Natürlich würden Vorkehrungen getroffen werden. Natürlich war es
alles andere als einfach, mit einer Panzerfaust ein Fahrzeug zu treffen, das
mit hoher Geschwindigkeit in einem Konvoi mit mehreren anderen, gleich
aussehenden Wagen über die Autobahn raste. Dafür, dass dieser Konvoi auf keinen
Fall zum Stehen kam, waren wir, die deutsche Polizei, verantwortlich.
Nein, der konvertierte Delmenhorster, der die Amerikaner in solche
Aufregung versetzte, machte mir keine Sorgen. Aber hatte Helena Guballa recht?
War es wirklich ein so abwegiger Gedanke, Judith Landers könnte sich während
der Jahre in Pakistan einer Gruppe angeschlossen haben, die den Amerikanern Böses
wollte? Menschen ändern sich. Manche Menschen ändern im Lauf ihres Lebens sogar
ihre Grundüberzeugungen. Im Gegensatz zu Hinrichs kannte sie sich in der Stadt
bestens aus, sprach vermutlich sogar den hiesigen Dialekt. Sie hatte Erfahrung
mit gefährlichen Situationen, war abgebrüht. Tausend Mal abgebrühter jedenfalls
als dieser jugendliche Hitzkopf. Zudem war sie sehr viel intelligenter.
Um kurz nach drei tauchte Helena Guballa wieder auf. Sie sah kaum
frischer aus als am Morgen, stürzte sich jedoch ohne Zögern und unterstützt von
einer neuen Tasse Milchkaffee wieder in die Arbeit.
22
Am Freitagvormittag um kurz vor zehn
Weitere Kostenlose Bücher