Die falsche Frau
war der Autor des Geschreibsels. Natürlich
war es um Jonas Jakobys Sturz vom Dach gegangen. Warum die Polizei so
ungewöhnlich brutal vorgehe, fragte sich der Journalist besorgt. Ob man
vielleicht mit etwas Schlimmem rechnete und die Bevölkerung bewusst im Unklaren
lieà über die drohenden Gefahren.
»Auffallend nervös sind wir angeblich«, sagte ich. »Und unsere
Pressestelle verdächtig zugeknöpft.«
»Sogar das abgebrannte Haus hat er erwähnt«, fügte Liebekind hinzu
und kratzte sich am Kinn.
»Und von dem Sprengstoff hat er auch irgendwie erfahren. Dass es nur
eine kleine Menge war, hat er natürlich unterschlagen.«
»Wie kann der Mann all diese Dinge wissen?«
»Ãberhaupt nicht. Er weià praktisch nichts. Was er geschrieben hat,
stammt überwiegend aus zweiter oder dritter Hand. GröÃtenteils sind das
Spekulationen und mehr oder weniger intelligent zusammengereimte
Halbwahrheiten. Aber natürlich kann er eins und eins zusammenzählen.«
Liebekind musterte mich in einer Mischung aus Sorge und Verwirrung.
»Was hat er davon? Was will er?«
»Was alle wollen: Karriere machen.«
»Kennen Sie diesen Herrn Stober näher?«
»Ich bin ihm vor ein paar Tagen zufällig über den Weg gelaufen.«
»Wie sollen wir reagieren? Ein offizielles Dementi?«
»Ich bin für das Gegenteil: Umarmungstaktik. Ich lade ihn zu einem
Exklusivinterview ein, sage ihm im Vertrauen ein paar Dinge, die er schon weiÃ
oder vermutet, und nehme ihm das Versprechen ab, nichts mehr ohne Rücksprache
mit mir zu veröffentlichen.«
Liebekind nickte bedächtig hinter seinem Beichtstuhlschreibtisch aus
dunklem Holz. Jetzt erst fiel mir auf, dass der Humidor verschwunden war, der
früher im Regal hinter ihm gestanden hatte. Ein Humidor voller kostbarer
Zigarren, die er niemals ansteckte, sondern nur hin und wieder hingebungsvoll
beschnupperte.
»Sie wirken nervös, lieber Herr Gerlach«, fand mein Vorgesetzter.
»Macht Ihnen diese Zeitungsgeschichte solche Sorgen?«
Ich winkte so hastig ab, dass es wie eine Bestätigung wirken musste.
Aber es ging ihn nun wirklich nichts an, dass ich mich das halbe Wochenende
lang über seine Frau geärgert hatte.
»Meine Töchter«, log ich.
»Ein schwieriges Alter«, meinte mein Chef gütig, der nie im Leben
Kinder gehabt hatte. »Aber ich denke, das Schlimmste liegt bald hinter Ihnen.«
Es war nicht einmal eine Lüge gewesen, wurde mir bewusst. Mein
Wochenende war so ruhig wie trübsinnig verlaufen. Mit Theresa hatte ich
wortkarge SMS ausgetauscht über das Wetter und den kommenden Herbst. Ich war
abwechselnd auf sie und auch mich selbst wütend gewesen. Und als dann meine
Töchter beim heutigen Frühstück wieder einmal von Ron Hendersons Schreckenstaten
anfingen, war mir der Kragen geplatzt. Die Henderson Building and Construction
habe überall auf der Welt die Finger im schmutzigen Spiel, wo ordentliche
Gewinne abzuräumen waren, meinten die Zwillinge herausgefunden zu haben. Sogar
beim Tiefseebohrloch im Golf von Mexiko, aus dem monatelang Millionen Tonnen
Rohöl ins Meer gesprudelt waren, sei die HBC angeblich irgendwie beteiligt
gewesen.
»Sie haben schlechten Beton genommen, haben wir gelesen.«
AuÃerdem hätten sie auf Haiti ein zwanzigstöckiges Hochhaus gebaut,
das bei dem groÃen Erdbeben eingestürzt war.
»Hundertneunzig Tote hat es gegeben!«
»Obwohl sie genau gewusst haben, dass es da Erdbeben gibt.«
Hendersons Firma hatte sich beim Bau des Hochhauses aus
Kostengründen an die auf Haiti geltenden Bauvorschriften gehalten, wurde mir
erläutert, und nicht an die sehr viel strengeren, die in den USA galten. Ich
hatte mich zunächst rundweg geweigert, irgendetwas von dem zu glauben, was sie
mir da auftischten.
Meine Töchter waren fassungslos gewesen. Sie konnten nicht
begreifen, dass solche Gemeinheiten geschehen konnten, ohne dass eine höhere
Macht einschritt. Ohne dass jemand zur Verantwortung gezogen wurde. Ihr Glaube
an das Gute im Menschen war zum ersten Mal in ihrem jungen Leben ernstlich erschüttert.
Keinen meiner Erklärungsversuche wollten sie gelten lassen.
»Er hat persönlich angeordnet, dass überall nur noch nach den
örtlichen Vorschriften gebaut wird«, empörte sich Louise. »Du kannst es bei
Wikileaks nachlesen, wenn du uns nicht
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