Die falsche Tochter - Roman
meisten Falten verbergen würde. Dann tauschte er seine Arbeitsstiefel gegen ein Paar ansehnlicherer Rockports. Als er sich mit der Hand durch das Gesicht fuhr, stellte er fest, dass er sich seit Tagen nicht mehr rasiert hatte. Leise fluchend schnappte er sich seinen Kulturbeutel und marschierte zum Badezimmer. Es war nicht in Ordnung, dass er sich ein Jackett anziehen und sich rasieren musste, um mit Leuten zu Abend zu essen, die in ihm Callies bösen Ex-Ehemann sahen. Das würde bestimmt ein anstrengender Abend werden. Dabei hätte er eigentlich arbeiten müssen und konnte zusätzliche Probleme in diesem Moment überhaupt nicht brauchen. Er zog gerade das Rasiermesser über das Leder, als es an der Tür klopfte.
»Ja?«
»Ich bin es, Callie.«
Er öffnete die Tür und zerrte sie hinein. »Warum tust du mir das an?«, fauchte er. »Womit habe ich das verdient?«
»Was denn — wir gehen doch nur zum Essen.« Sie bog den Kopf zurück, damit er sie nicht mit Rasierschaum beschmierte. »Du isst doch gerne.«
»Halt mich da raus.«
Callie zog die Augenbrauen hoch. »Du kannst ja ablehnen.« »Das lässt deine Mutter nicht zu.«
Ihr wurde warm ums Herz. »Wirklich?«
»Sie sagte, ich solle mir ein frisches Hemd anziehen.«
»Es ist ein hübsches Hemd.«
Er schnaubte verächtlich. »Ja, aber es ist verknittert. Und ich habe keine Krawatte.«
»Es ist gar nicht verknittert, und eine Krawatte brauchst du nicht.«
»Du hast ein Kleid angezogen«, sagte er vorwurfsvoll. Stirnrunzelnd drehte er sich zum Spiegel und widmete sich wieder seiner Rasur.
»Du bist nervös, weil du mit meinen Eltern zu Abend essen musst.«
»Ich bin nicht nervös.« Er fluchte, als er sich am Kinn schnitt. »Ich sehe nur nicht ein, warum ich mitkommen soll. Sie wollen mich doch gar nicht dabeihaben.«
»Hast du nicht gerade gesagt, dass meine Mutter dich doch dabeihaben will?«
Er warf ihr einen finsteren Blick zu. »Bring nicht immer alles durcheinander.«
»Wollten wir nicht versuchen, miteinander klarzukommen, Graystone?«
»Ich dachte, wir kämen schon miteinander klar.« Er schwieg und spülte das Rasiermesser ab.
»Siehst du. Und so etwas gehört ab jetzt dazu. Wir werden solche Situationen nicht wieder aussparen«
»Ist ja schon gut, ich komme ja mit.« Er musterte sie. »Aber warum musstest du ein Kleid anziehen?«
Sie hob die Hände und drehte sich einmal um die eigene Achse. »Gefällt es dir nicht?«
»Doch, schon. Was trägst du darunter?«
»Wenn du ein artiger Junge bist, darfst du später vielleicht nachschauen.«
Beim Essen bemühte sich Jake, nicht ständig daran zu denken, wie er Callie später das kleine Schwarze ausziehen würde. In Gegenwart ihrer Eltern erschienen ihm solche Gedanken unhöflich. Die Unterhaltung bei Tisch drehte sich um alles Mögliche, nur nicht um Callies Herkunft, wodurch dieses Thema merkwürdigerweise erst recht präsent zu sein schien. Jake und Callie erzählten von der Ausgrabung, wobei sie den Brandanschlag und die Todesfälle allerdings nicht erwähnten.
»Ich glaube, Callie hat uns nie erzählt, wie Sie zu Ihrem Beruf gekommen sind.« Elliot hatte gerade den Wein gekostet, und jetzt schenkte der Kellner allen ein.
»Ach … ich habe mich schon immer dafür interessiert, wie die verschiedenen Kulturen entstanden und sich entwickelten.
« Jake zwang sich, nicht sofort nach seinem Glas zu greifen und den Wein wie Medizin in sich hineinzuschütten. »Ich wollte wissen, wie Traditionen entstehen und wie Menschen ihre Gesellschaften aufbauen –« Jake brach ab. Liebe Güte, der Mann wollte doch keinen Vortrag hören! »Ich war schon als Junge davon fasziniert«, fuhr er nach einer Weile fort. »Mein Vater ist zu je einem Drittel Apache, Engländer und Franko-Kanadier. Meine Mutter hat irisches, italienisches, deutsches und französisches Blut in den Adern. Ich fand die Vorstellung spannend, alle diese ethnischen Spuren zu ihrem Ursprung zurückzuverfolgen.«
»Und jetzt helfen Sie Callie dabei, ihre eigene Spur zurückzuverfolgen«, sagte Elliot.
Einen Moment lang herrschte betretenes Schweigen. Jake konnte spüren, wie Vivian neben ihm erstarrte, aber Callie legte ihrem Vater dankbar lächelnd die Hand auf den Arm.
»Ja. Sie lässt sich nur nicht gerne helfen, deshalb muss man sie dazu zwingen«, sagte Jake.
»Wir haben sie zu einem selbständigen, unabhängigen Menschen erzogen, und das hat sie sich sehr zu Herzen genommen.«
»Ach, es ging Ihnen in Wahrheit also gar
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