Die falsche Tochter - Roman
laufen können. Auch sein Großvater war ihm keine Hilfe. Er konnte den beiden noch so eindringlich die Realität vor Augen führen und sie an die zahlreichen Enttäuschungen erinnern, die sie in der Vergangenheit erlebt hatten – es beeindruckte sie überhaupt nicht.
Doug war entsetzt gewesen, als er erfahren hatte, dass seine Mutter Callie Dunbrook in ihrem Motelzimmer aufgesucht und ihr Familienbilder gezeigt hatte. Dadurch hatte Suzanne nur die alten Wunden wieder aufgerissen und obendrein eine Fremde in ihre Tragödie hineingezogen. Wahrscheinlich würde es nicht mehr lange dauern, bis ganz Woodsboro über die Familiengeschichte der Cullens tratschte.
Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als Callie Dunbrook selbst aufzusuchen. Er musste sie bitten, den Besuch seiner
Mutter für sich zu behalten – wenn es dazu nicht schon zu spät war. Und er musste sich entschuldigen. Dabei ging es ihm nicht darum, sie persönlich in Augenschein zu nehmen. Was ihn anging, so gab es seine Schwester Jessica einfach nicht mehr. Sie war schon so lange weg, dass nichts sie zurückbringen würde.
Und selbst wenn sie zurückkäme – was brächte das schon? Wenn sie noch lebte, wäre sie mittlerweile eine erwachsene Frau mit einem eigenen Leben, die nichts mehr mit dem Baby zu tun hatte, das sie verloren hatten. Ganz gleich, was dabei herauskam – für seine Mutter bedeutete das Ganze nur noch mehr Leid. Aber er konnte nichts dagegen unternehmen. Die Suche nach Jessica war nun einmal das Wichtigste in ihrem Leben, ihr Heiliger Gral.
Doug fuhr rechts heran und hielt vor dem Bauzaun. An dieses Gelände erinnerte er sich noch gut – der weiche Wiesenboden, die geheimnisvollen Pfade durch den Wald. Als Junge war er immer in Simon’s Hole schwimmen gegangen, und einmal hatte er dort sogar in einer mondbeschienenen Nacht mit Laurie Worrell nackt gebadet und sie beinahe dazu gebracht, sich in dem kühlen, dunklen Wasser die Jungfräulichkeit nehmen zu lassen.
Jetzt war das Gelände abgesperrt, und überall türmten sich riesige Erdhügel auf. Doug würde nie verstehen, warum die Menschen nicht einfach die Dinge auf sich beruhen lassen konnten. Als er aus dem Auto stieg und an dem Zaun entlangging, löste sich ein kleiner Mann in schmutzig brauner Kleidung aus einer Gruppe und kam ihm entgegen.
»Wie läuft es?«, fragte Doug, weil ihm nichts anderes einfiel.
»Sehr gut. Interessieren Sie sich für die Ausgrabung?«, erwiderte Leo.
»Nun …«
»Zum jetzigen Zeitpunkt sieht es für einen Außenstehenden vermutlich recht verwirrend aus, aber in Wahrheit stehen wir am Beginn einer äußerst gut durchorganisierten archäologischen
Ausgrabung. Die erste Untersuchung hat Artefakte zutage gefördert, die wir auf das Neolithikum datieren konnten. Ein Baggerführer hatte beim Ausschachten menschliche Knochen entdeckt, die fast sechstausend Jahre alt sind.«
»Ja, ich weiß. Dolan wollte hier bauen. Ich … ich habe es in den Nachrichten gesehen«, fügte Doug hinzu und blickte über Leos Schulter auf die Leute, die bei der Arbeit waren. »Ich dachte, Callie Dunbrook würde das Projekt leiten.«
»Dr. Dunbrook ist die archäologische Leiterin des Antietam-Creek-Projekts. Der leitende Anthropologe ist Dr. Graystone. Wir teilen gerade das Feld auf«, fuhr Leo fort und wies hinter sich. »Es wird in quadratische Segmente eingeteilt, und jedes einzelne Segment bekommt eine Referenznummer. Das ist einer der wichtigsten Schritte für die Dokumentation. Wenn wir graben, zerstören wir das Gelände, und wir können es in seiner Gesamtheit nur erhalten, indem wir jedes Segment fotografieren und aufzeichnen.«
»Oh.« Doug war die Ausgrabung völlig gleichgültig. »Ist Dr. Dunbrook hier?«
»Leider nicht. Aber Ihre Fragen können auch ich oder Dr. Graystone jederzeit beantworten.«
Doug bemerkte, dass Leo ihm einen merkwürdigen Blick zuwarf. Wahrscheinlich denkt er, dass ich sie kennen lernen will, weil ich sie im Fernsehen gesehen habe, dachte er und änderte rasch seine Taktik. »Ich kenne Ausgrabungen bisher nur aus Indiana Jones . Es ist ganz anders, als ich erwartet hatte.«
»Auf jeden Fall viel weniger dramatisch. Es gibt weder böse Nazis noch Verfolgungsjagden. Aber es kann trotzdem äußerst spannend sein.«
Doug spürte, dass er jetzt nicht mehr einfach so wieder verschwinden konnte. Der Mann erwartete offenbar, dass er weitere Fragen hatte. »Also, um was geht es denn hier eigentlich? Ich meine, was wollen Sie
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