Die falsche Tochter - Roman
in der Nähe des Colleges hatten sie sich nie richtig heimisch gefühlt. Und als sie dann mit Douglas, der damals noch ein Baby war, zurückkehrten, waren sie schon eine richtige Familie gewesen.
Noch bevor Jay merkte, was er tat, hatte er seinen Wagen am Straßenrand abgestellt. Er stieg aus und ging den halben Block zum Laden seines Schwiegervaters zu Fuß. Roger stand hinter der Theke und bediente einen Kunden. Jay hob grüßend die Hand und schlenderte zwischen den Regalen hindurch. Er hatte Roger schon immer näher gestanden als seinem eigenen Vater, dem es lieber gewesen wäre, wenn sein Sohn mehr Erfolge im Sport als in Geisteswissenschaften vorzuweisen gehabt hätte.
Jay blieb unvermittelt stehen, als er Doug entdeckte, der das Regal mit den Biographien aufräumte. Seitdem sein Sohn wieder in Woodsboro war, hatte er ihn erst zwei Mal gesehen. Es war jedes Mal beinahe ein Schock für ihn, wenn er begriff, dass dieser große, breitschultrige Mann sein Junge war.
»Hast du etwas Unterhaltsames für den Strand zu lesen?«, fragte Jay.
Doug blickte über die Schulter, und sein ernstes Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. »Ich habe einige ziemlich heiße Bücher in meiner Privatbibliothek, aber die sind teuer. Was machst du in der Stadt?«
Kaum hatte er die Frage ausgesprochen, da wusste er die Antwort bereits. Sein Grinsen erlosch.
»Mom hat’s dir erzählt, nicht wahr?«
»Hast du das Video gesehen?«
»Mehr als das. Ich habe sie persönlich kennen gelernt.«
Jay trat näher. »Und, wie hast du dich gefühlt?«
»Wie soll ich mich schon gefühlt habe? Ich kenne die Frau ja gar nicht. Aber Mom hat das Ganze mal wieder ziemlich aufgewühlt.«
»Was ist mit Roger?«
»Die Nachricht hat ihn erschüttert, aber er hält sich gut. Du kennst ja Grandpa.«
»Hat er sie auch schon kennen gelernt?«
»Nein.« Doug schüttelte den Kopf. »Er hat gesagt, er hätte Angst, dass sie einfach abhaut oder sich weigert, die Tests zu machen, wenn wir sie zu sehr bedrängen. Aber er möchte sie gerne kennen lernen. Er liest jetzt sogar Bücher über Archäologie. Wahrscheinlich will er ein Thema haben, über das er mit ihr reden kann, wenn wir erst mal wieder eine große, glückliche Familie sind.«
»Wenn sie deine Schwester ist … wenn sie es wirklich ist, müssen wir es wissen. Und wir müssen wissen, wie wir damit umgehen sollen. Ich werde mit Roger sprechen, bevor ich wieder fahre. Halte du ein Auge auf deine Mom, ja?«
10
Noch ganz erfüllt von den Eindrücken seines spannenden Besuches bei der Ausgrabung riss sich Tyler von seiner Mutter los, als sie die Buchhandlung betraten. Sein verschwitztes Gesicht glühte vor Erregung, als er auf die Theke zustürmte. In der Hand hielt er einen flachen Stein.
»Sieh mal, Grandpa Roger, sieh mal, was ich bekommen habe!«, rief er aufgeregt.
»Ty, du darfst die Leute nicht einfach unterbrechen, wenn sie sich unterhalten«, ermahnte ihn Lana mit einem entschuldigenden Blick auf Jay. Doch Roger hatte sich bereits vorgebeugt und rückte seine Brille zurecht. »Na, was hast du denn da, mein großer Junge?«
»Das ist ein Teil von einem Speer von einem Indianer, und vielleicht hat er Leute damit getötet.«
»Das würde mich gar nicht wundern. Ist das nicht sogar ein bisschen Blut da vorne?«
Fasziniert von der Vorstellung betrachtete Ty eingehend die Speerspitze. »Vielleicht«, flüsterte er voller Ehrfurcht.
»Entschuldigung.« Kopfschüttelnd nahm Lana ihren Sohn auf den Arm. »Indiana Jones hat offenbar seine guten Manieren vergessen.«
»Wenn ich groß bin, will ich auch Knochen ausgraben.«
»Na, das wird aber ein Spaß.« Lana verdrehte die Augen und verlagerte Tys Gewicht auf ihrer Hüfte. Dabei schoss ihr
durch den Kopf, dass sie ihn nicht mehr lange so würde tragen können, ein Gedanke, der sie mit Wehmut erfüllte.
»Setz ihn hier ab.« Roger klopfte mit der flachen Hand vor sich auf die Theke. »Lana, das ist mein …« Schwiegersohn , hätte er fast gesagt. »Das ist Douglas’ Vater, Jay. Jay, das ist Lana Campbell, die hübscheste Anwältin in ganz Woodsboro, und ihr Sohn Tyler.«
Lana setzte Tyler auf die Theke und streckte die Hand aus. »Nett, Sie kennen zu lernen, Mr Cullen.«
Sie stellte fest, dass Jay Callies Augen und Dougs Nase hatte. Ob es ihn wohl auch so mit Staunen und gleichzeitig mit Freude erfüllte, wenn er seine eigenen Züge in den Gesichtern seiner Kinder erkannte, so wie es ihr selbst bei Ty ging? »Tyler und ich
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