Die falsche Tochter - Roman
konnte seinen Widerwillen gegen die Situation gut verstehen. Plötzlich sah sie ihn mit anderen Augen, und ihr ging durch den Kopf, dass sie Doug wahrscheinlich gemocht hätte, wenn sie ihn unter anderen Umständen kennen gelernt hätte.
»Mir liegt auch nicht allzu viel daran, mit dieser Situation konfrontiert zu sein. Schließlich habe ich auch eine Familie. Willst du jetzt das Bier oder nicht?«
Er nahm ihr die Flasche aus der Hand. »Ich hoffe so sehr, dass sich meine Mutter irrt. Sie hat sich ja schon häufiger Hoffnungen gemacht, nur um dann wieder enttäuscht zu werden. Aber wenn ich dich anschaue, dann weiß ich, dass sie sich dieses Mal nicht irrt.«
Callie hatte das Gefühl, sich auf einem emotionalen Minenfeld zu bewegen, und vermutete, dass es Doug nicht anders ging.
»Nein, ich glaube auch nicht, dass sie sich irrt. Wir müssen zwar noch die Testergebnisse abwarten, aber es gibt schon genug Hinweise, die für sich sprechen.«
»Du bist meine Schwester.« Dougs Hals schmerzte, als er die Worte laut aussprach. Er setzte die Bierflasche an den Mund und trank einen Schluck.
»Es ist wahrscheinlich, dass ich deine Schwester war .«
»Können wir uns setzen?«
Callie räumte Bücher, Pornohefte, Steine, leere Bierflaschen und zwei Skizzen des Geländes von der Sitzbank.
»Ich … will nur nicht, dass du ihr wehtust. Mehr nicht«, sagte Doug.
»Warum sollte ich?«
»Du verstehst das nicht.«
»Nein. Okay.« Sie rieb sich über die Augen. »Dann erklär es mir.«
»Sie ist nie darüber hinweggekommen. Ich glaube, wenn du gestorben wärst, wäre es einfacher für sie gewesen.«
»Das ist zwar hart, aber, klar, ich verstehe schon, was du meinst.«
»Die furchtbare Ungewissheit, ihr unerschütterlicher Glaube, dass sie dich eines Tages wieder finden würde, die Verzweiflung, als es dann nicht so war – meine Mutter ist an all dem zerbrochen. Letztendlich ist auch die Ehe meiner Eltern daran gescheitert. Meine Mutter hat sich auf den Trümmern des Lebens, das sie vorher geführt hatte, ein neues Leben aufgebaut, und ich will einfach nicht, dass jetzt alles wieder von vorn losgeht.«
Callie verspürte ein tiefes Mitleid mit Suzanne, und doch war das alles weit weg von ihr, genauso weit weg wie der Tod jenes Mannes, dessen Knochen sie ausgegraben hatte. »Ich will ihr nicht wehtun«, sagte sie leise. »Ich empfinde zwar nicht das für sie, was du empfindest, aber wehtun will ich ihr nicht. Sie will ihre Tochter zurück, doch das wird nie geschehen. Ich kann ihr nur das Wissen, vielleicht auch den Trost geben, dass ich lebe, gesund bin und ein schönes Leben bei guten Menschen geführt habe.«
»Sie haben dich gestohlen.«
Sie ballte unwillkürlich die Fäuste, als müsse sie ihre Eltern verteidigen. »Nein, das stimmt nicht. Sie wussten es nicht. Und sie leiden darunter, dass sie es jetzt erfahren haben.«
»Und wie fühlst du dich jetzt?«, fragte Doug leise.
»Ich … ich habe Angst«, gab sie zu. »Ich habe Angst, weil ich das Gefühl habe, von der Situation überrollt zu werden. Meine Beziehung zu meinen Eltern hat sich bereits verändert. Wir gehen viel vorsichtiger miteinander um, als wir es eigentlich
müssten. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis wir einander wieder unbefangen gegenübertreten können, aber so wie früher wird es nie mehr sein, das weiß ich genau. Und das bringt mich auf die Palme. Und es tut mir Leid für deine Mutter«, fügte sie hinzu. »Sie hat das nicht verdient. Und du oder dein Vater auch nicht.«
»Du auch nicht. Was ist eigentlich deine erste klare Erinnerung?«
»Die erste?« Callie trank einen Schluck Bier und dachte über die Frage nach. »Ich sitze auf den Schultern meines Vaters. Am Strand, in Martha’s Vineyard, wahrscheinlich, weil wir fast jeden Sommer für zwei, drei Wochen dorthin gefahren sind. Ich halte mich mit den Händen an seinen Haaren fest und lache, weil er auf und ab springt. Und ich höre, wie meine Mutter sagt: ›Elliot, bitte sei vorsichtig!‹ Aber sie hat auch gelacht.«
»Meine erste Erinnerung ist, wie wir in der Hagerstown Mall in der Schlange gestanden haben, um auf den Nikolaus zu warten. Die Musik, die Stimmen, der riesige runde Schneemann, das war alles ein bisschen Furcht erregend. Du hast in deinem Buggy geschlafen.«
Doug nahm noch einen Schluck Bier. Er spürte, dass er es Callie erzählen musste. »Du hattest so ein rotes Kleidchen an – aus Samt. Ich wusste damals allerdings nicht, dass es Samt war. Hier
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