Die falsche Tochter - Roman
auf, um ihn zu begrüßen. Er war leicht gebräunt – wahrscheinlich vom Golfspielen, dachte Callie – und trug einen Schal im Kragen seines Strickhemdes. Die Haare rings um die
Glatze waren schneeweiß, und er trug eine Brille mit Metallrahmen. Callie wusste, dass Simpson Anfang siebzig sein musste, und registrierte überrascht, dass sein Händedruck fest wie der eines jungen Mannes war.
»Vivians und Elliots kleines Mädchen – eine erwachsene Frau! Ich weiß wirklich nicht, wo die Zeit geblieben ist. Das letzte Mal habe ich dich gesehen, als du ein paar Monate alt warst. Gott, plötzlich fühle ich mich uralt.«
»Sie sehen aber nicht so aus. Das ist Jacob Graystone. Mein …«
»Auch ein Archäologe.« Simpson schüttelte Jake herzlich die Hand. »Faszinierend, faszinierend. Bitte, nehmen Sie doch Platz. Barb bereitet gerade Limonade und Plätzchen vor. So, und du bist also Dr. Callie Dunbrook«, fuhr er fort und strahlte Callie an. »Deine Eltern sind bestimmt sehr stolz auf dich.«
»Ich hoffe es, Dr. Simpson.«
»Du kannst Henry zu mir sagen. Bitte.«
»Henry, ich weiß nicht, wie viel mein Vater Ihnen erzählt hat, als er Sie angerufen hat.«
»Genug jedenfalls, dass ich mich hingesetzt habe und alle Unterlagen noch einmal durchgegangen bin, die irgendwie hilfreich für dich sein könnten.«
Er blickte auf, als seine Frau ins Zimmer kam. Sie schob einen Servierwagen aus Glas und Chrom vor sich her. »Nein, nein, bleiben Sie sitzen«, sagte sie zu Jake, der aufgesprungen war, um ihr zu helfen. »Ich komme schon zurecht. Sie haben ja bereits angefangen, sich zu unterhalten.«
»Ich habe Barbara von dem Gespräch mit deinem Vater erzählt.« Henry lehnte sich seufzend zurück. »Ich will ganz aufrichtig mit dir sein, Callie. Ich glaube, diese Frau, die zu dir gekommen ist, irrt sich. Marcus Carlyle hatte einen sehr guten Ruf in Boston, sonst hätte ich ihn deinen Eltern nie empfohlen.«
Barbara stellte ein Tablett mit winzigen Gebäckstücken auf den Couchtisch und strich ihrem Mann über den Arm. »Henry
macht sich Gedanken, dass er verantwortlich ist, falls die Geschichte stimmt.«
»Ich habe Vivian und Elliot zu Carlyle geschickt und sie gedrängt, sich um eine Adoption zu bemühen.«
Er ergriff die Hand seiner Frau. »Ich kann mich noch gut an den Moment erinnern, als ich Vivian sagen musste, dass ihr die Gebärmutter entfernt werden müsse. Sie war noch so jung und sah so niedergeschlagen aus. Sie wünschte sich verzweifelt ein Kind. Dein Vater übrigens auch.«
»Warum haben Sie den beiden ausgerechnet Carlyle empfohlen?« , fragte Callie.
»Ich hatte eine andere Patientin, deren Mann zeugungsunfähig war. Wie deine Eltern ließen sie sich auf die Warteliste von Adoptionsagenturen setzen. Als diese Patientin eines Tages zur jährlichen Untersuchung kam, strahlte sie vor Glück, weil sie und ihr Mann über Carlyle ein Kind adoptiert hatten. Sie hörte gar nicht mehr auf, ihn in den höchsten Tönen zu loben. Ich habe häufig mit Patientinnen zu tun, die nicht empfangen oder ein Kind nicht bis zum Ende der Schwangerschaft austragen können, und ich stehe auch mit Kollegen in Kontakt.«
Henry griff nach seinem Glas. »Über Carlyle hörte ich nur Gutes, und eines Tages lernte ich ihn beim Abendessen im Haus einer Patientin persönlich kennen. Er war sehr eloquent, amüsant und voller Leidenschaft bei der Sache, wenn es darum ging, kinderlosen Ehepaaren zu helfen. Ich weiß noch genau, wie er es formulierte: Familien zu bilden. Ich war jedenfalls äußerst beeindruckt, und bei meinem nächsten Gespräch mit Vivian empfahl ich ihr Carlyle.«
»Haben Sie ihn auch anderen empfohlen?«
»Ja, soweit ich mich erinnere, drei oder vier anderen Patientinnen. Einmal hat er mich angerufen, um sich bei mir zu bedanken. Dabei entdeckten wir, dass wir beide leidenschaftlich gern Golf spielen, und von da an sind wir häufiger zusammen auf den Platz gegangen. Ich kann mir wirklich nur vorstellen, dass hier ein Irrtum vorliegt, Callie. Der Mann, den ich damals
kannte, kann unmöglich in Kindesentführungen verwickelt gewesen sein.«
»Erzählen Sie mir ein bisschen mehr über ihn.«
»Er war sehr dynamisch.« Simpson schwieg einen Moment lang nachdenklich und nickte dann. »Genau das war mein erster Eindruck – ein dynamischer Mann. Er war sehr klug und hatte einen ausgezeichneten Geschmack. Eine distinguierte Erscheinung. Er war sehr stolz auf seine Arbeit und hatte das Gefühl, wie er einmal
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