Die falsche Tochter - Roman
vorläufig musste sie sich mit dem kleinen Zimmer begnügen.
Callie ließ sich auf ihr Bett sinken und öffnete Suzannes Schuhschachtel. Eigentlich hatte sie keinen weiteren Brief mehr lesen wollen, aber irgendwie fühlte sie sich doch magisch von ihnen angezogen. Dieses Mal nahm sie einfach wahllos einen der Umschläge aus der Schachtel.
Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Jessica. Heute wirst du fünf Jahre alt.
Bist du glücklich? Bist du gesund? Kennst du mich, tief in deinem Herzen?
Hier ist heute ein wundervoller Tag. Es liegt schon ein leiser Hauch von Herbst in der Luft. Die Pappeln beginnen sich gelb zu färben, und die Büsche vor Grandmas Haus leuchten bereits feuerrot.
Heute früh kamen deine beiden Großmütter vorbei. Natürlich wissen sie alle beide, dass es ein schwerer Tag für mich ist. Nanny und Pop reden davon, nächstes oder übernächstes Jahr vielleicht nach Florida zu ziehen. Sie haben die Winter hier satt, aber ich kann nicht verstehen, warum manche Menschen das ganze Jahr über Sommer haben möchten.
Grandma und Nanny glaubten, sie helfen mir, indem sie auf mich einredeten und Pläne für den Tag machten. Sie wollten mit
mir in das Einkau fszentrum drüben in West Virginia fahren, um Weihnachtseinkäufe zu machen und zu Mittag zu essen. Ich war wütend. Merken sie denn nicht, dass ich keinen Wert auf den Rummel im Einkaufszentrum lege? Ich wollte am liebsten allein sein. Offenbar habe ich mit meiner Reaktion ihre Gefühle verletzt, aber das ist mir egal.
Alles ist mir egal.
Manchmal möchte ich am liebsten nur schreien. Schreien und schreien und nie mehr aufhören. Denn du wirst heute fünf Jahre alt, und ich weiß nicht einmal, wo du bist. Ich habe dir einen Kuchen gebacken und ihn mit grünem Zuckerguss überzogen. Er sieht so hübsch aus. Ich habe fünf weiße Kerzen auf den Kuchen gestellt, sie angezündet und Happy Birthday für dich gesungen.
Ich möchte, dass du weißt, dass ich dir einen Kuchen gebacken und Kerzen darauf gestellt habe.
Deinem Daddy darf ich das nicht erzählen. Er wird dann bestimmt böse auf mich, und dann streiten wir uns, oder, was noch schlimmer ist, er schweigt einfach und sagt gar nichts mehr. Aber du und ich, wir wissen es.
Als Doug aus der Schule kam, habe ich ihm ein Stück von dem Kuchen gegeben. Er sah ganz ernst und traurig aus, als er sich an den Tisch setzte und aß. Ich wünschte, ich könnte ihm erklären, dass ich dir einen Kuchen gebacken habe, weil keiner von uns dich vergessen kann.
Aber er ist nur ein kleiner Junge.
Ich habe dich nicht vergessen, Jessie. Ich habe dich nicht vergessen.
Ich liebe dich.
Mama
Callie faltete den Brief wieder zusammen und stellte sich vor, wie Suzanne in einem leeren Haus für ihr kleines Mädchen Kerzen anzündete und »Happy Birthday« sang. Und sie dachte an die Tränen, die ihr Vater an diesem Nachmittag vergossen hatte. Liebe war so oft mit Schmerz verbunden. Es war ein
Wunder, dass die Menschen ständig danach strebten. Aber vielleicht war Einsamkeit ja noch schlimmer.
Callie hatte das Gefühl durchzudrehen, wenn sie noch länger in ihrem Zimmer allein bliebe. Entschlossen stand sie auf und ging zur Tür. In dem Moment, als sie die Hand auf den Türgriff legte, merkte sie plötzlich, wonach sie sich sehnte – sie wollte zu Jake. Aber warum? Um ihren Schmerz mit Lust zu übertünchen? Um die Einsamkeit mit belanglosem Geplauder zu vertreiben? Um sich mit ihm zu streiten? So etwas Ähnliches würde wohl passieren. Callie legte ihre Stirn gegen die Tür. Sie hatte kein Recht, sich nach Jake zu sehnen.
Kurz entschlossen packte sie ihr Cello aus, rieb den Bogen mit Kolophonium ein und setzte sich auf dem wackeligen Stuhl zurecht. Ursprünglich hatte sie Brahms spielen wollen, doch als sie den Bogen zum ersten Ton ansetzte, überlegte sie es sich plötzlich anders. Sie warf einen raschen Blick auf die Wand zwischen ihrem und Jakes Zimmer. Vielleicht konnte sie ja nicht zu ihm hinübergehen, aber wer sagte denn, dass sie ihn nicht dazu bringen konnte, zu ihr zu kommen?
Lächelnd begann sie zu spielen. Es dauerte keine dreißig Sekunden, bis Jake mit der Faust gegen die Wand hämmerte, doch sie spielte weiter. Plötzlich hörte das Hämmern auf. Callie hörte, wie Jake seine Tür zuknallte, und dann hämmerte er gegen ihre Tür. Betont langsam legte Callie den Bogen beiseite, lehnte ihr Instrument gegen den Stuhl und öffnete die Tür. Jake sah so verdammt sexy aus, wenn er wütend
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