Die Familie Willy Brandt (German Edition)
der unbedingt und leidenschaftlich für seine Überzeugungen einstand; dazu mag in gewisser Weise passen, dass Rut Brandt Gretchen Dutschke nach dem Attentat anbot – über Peter – ihr neugeborenes Kind für eine gewisse Zeit zu sich zu nehmen, als Geste der Solidarität und Entlastung, aber natürlich – das wusste Rut Brandt selbst nur zu gut – war das Kind für Gretchen Dutschke Trost in dieser schweren Zeit. Peter Brandt imponierte auch die asketische Kraft Rudi Dutschkes, der seinen Vater, der ja auch ein Fleißiger war, noch zu übertreffen schien und keine körpervergiftenden Stimulanzien benötigte, um – über die Bücher gebeugt und an den Schreibtisch gebunden – durchzuhalten. Dutschke adelte die Haltung des Lernenden, der sich alles abverlangt, der alles einsetzt, um die Welt und sich selbst zu durchdringen. Peter Brandt hat diese Haltung früh verinnerlicht, familiär in der Auseinandersetzung mit dem Vater, schulisch in der Konfrontation mit den Lehrern, beruflich an der Universität, im politischen und gesellschaftlichen Engagement. Vieles von dem, was Peter Brandt an Dutschke schätzt oder hervorhebt, kommt mir aus den zahlreichen Begegnungen mit ihm bekannt und vertraut vor. Stets schleppt Peter Brandt eine hoffnungslos überfüllte, eckig ausgebeulte Ledertasche mit sich herum, ein Ding und Symbol, das ihn als lebenslänglichen Schüler ausweist, er fährt meistens mit wehenden Schößen Fahrrad, er eilt von einem Termin zum nächsten, zückt im Bus den Bleistift und liest, nimmt hier oder da Prüfungen ab, hält Vorträge, versinkt in Bibliotheken, verwächst mit seinem Schreibtisch, schreibt, meist mit der Hand, Aufsatz um Aufsatz, Buch um Buch, Mails beantwortet er rasch, aber ökonomisch knapp, oft schließen sie mit der Formel »In Eile« oder »gerade auf dem Sprung«. Peter Brandt hat den fleißstrotzenden Rudi Dutschke als Stimulanspartner und Motivationsfigur für den eigenen Weg adoptiert; er ist dem Appell, mit dem er seine Abiturrede am 16. März 1968 beschließt, »Lernt, lernt, lernt!« (ein Lenin-Zitat), treu geblieben. Die Rede schafft einen kleinen Skandal, zahlreiche Eltern in der Aula der Schadow-Oberschule entrüsten sich, es wird gezischt, es wird »Pfui!« oder »Unerhört!« gerufen. Rut Brandt, die aus Bonn gekommen ist, erschreckt über den Grad der Ablehnung, das undemokratische und intolerante Verhalten der Elternschaft befremdet sie. Dabei hatte der Schüler Brandt lediglich eine weiter gehende Demokratisierung der Schule gefordert, wobei sich seine Kritik auch gegen solche Schüler wandte, die das tradierte Pauker-Pennäler-Verhältnis, das auf unangetasteter Autorität basierte, einfach nur hinnahmen, ohne es selbstdenkend in Frage zu stellen. Im Grunde nahm Peter Brandts Abiturrede »Für eine veränderte Schule« schon Willy Brandts Appell »Wir wollen mehr Demokratie wagen« vorweg, mit dem der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung am 28. Oktober 1969 Furore machte. Doch wenn man beide Texte vergleicht, die Abiturrede und die Regierungserklärung, fällt ein eklatanter Unterschied auf: Während der Abiturient eine demokratische Mitbestimmung für die Schüler fordert, einen echten demokratischen Dialog über Lehr- und Erziehungsmethoden, will der Bundeskanzler das »Mehr« an Demokratie durch Maßnahmen von »oben« nach unten erreichen. Man wolle sich dem Bürger gegenüber »öffnen«, seinem kritischen Bedürfnis »Genüge« tun und durch »ständige Fühlungnahme« und »Unterrichtung« erreichen, dass er »an der Reform von Staat und Gesellschaft« mitwirken könne. Tatsächlich skizziert Brandt hier ein großes, sensibles Staatsohr, das nur besser in die Gesellschaft hineinhören müsse, um das »Mehr« an Demokratie zu erreichen. Von echten plebiszitären Elementen oder gar basisdemokratischen Modellen ist hier nicht die Rede. Und steckte in dieser Formulierung nicht auch – neben dem Mut, Reformen anzustoßen – ein gerütteltes Maß an Misstrauen gegenüber der Gesellschaft und ihren Bürgern? Ist die Bevölkerung schon so weit, so staatsmündig, so engagiert, so politisch denkend und ansprechbar, wie wir es uns wünschen? Gefährden wir nicht die funktionierende, parlamentarische Demokratie, wenn wir uns zu sehr der »Fühlungnahme« verschreiben? Wer etwas wagt, geht davon aus, dass auch etwas verloren werden kann. Brandts Appell ist mutig und besorgt zugleich, und er ist keineswegs so stürmisch und jugendbewegt, wie es im
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