Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Rückblick mitunter dargestellt wurde. Der Bundeskanzler, der so artikuliert, beugt sich wie ein Vater weiter, gütiger und verständnisvoller hinunter, als es seine Vorgänger getan haben. Die Echos der familiären Auseinandersetzungen mit Peter finden sich in diesem Antrittstext unübersehbar wieder. So wie Brandt seinem Sohn zuhörte, so wollte er als sensibler, gesprächsbereiter Staatsvater in die Gesellschaft hineinhören: Geduldig, empfänglich für die »begründeten Wünsche der gesellschaftlichen Kräfte«, die sich freilich mit dem »politischen Willen der Regierung vereinen lassen« mussten. Was wiegt mehr? Wunsch oder Wille?
Politisch hat Peter Brandt sicherlich gegen die Politik des Vaters gekämpft, aber steckte in seiner radikalen Gesinnung nicht auch ein echter Liebesbeweis, ein Liebesverlangen? Der Wunsch, Vaters Gehör und seine Anerkennung zu finden? Und war die Einübung in trotzkistische Positionen und Ideen nicht auch ein Überbietungsgefecht, das sich der junge Peter Brandt mit dem jungen Willy Brandt lieferte? Wie zerrissen, wie hin- und hergeworfen sich der Sohn gefühlt haben muss zwischen familiären Forderungen, den Ansprüchen seiner Genossen und eigenen Standortbestimmungen macht das Telegramm deutlich, dass Peter seinem Vater am 18. März 1968 um 20 Uhr 22 ins Nürnberger Grand Hotel schickt. Aufgebrachte Demonstranten hatten Willy Brandt und Herbert Wehner beim Betreten der Nürnberger Meistersingerhalle, wo ein SPD-Parteitag stattfand, bedrängt, Brandt war am Kopf getroffen und Herbert Wehner die Brille aus dem Gesicht geschlagen worden. Daraufhin empört sich der Vater telefonisch gegenüber der Mutter, seine Geduld mit Peter sei nun bald erschöpft, denn dessen »Gesinnungsgenossen« hätten ihn tätlich angegriffen. Rut setzt sich mit Peter in Verbindung und rät ihm, den aufgebrachten Vater anzurufen. Die Art und Weise, wie Peter reagiert, ist kennzeichnend für die Männer in der Familie Brandt, sich zu erklären, Unangenehmes zur Sprache zu bringen, auf Verletzungen zu reagieren. Es wird geschrieben; so kann man etwas sagen und dennoch schweigen. Anstatt den Vater anzurufen, schickt Peter ein Telegramm. Das Telegramm bietet gegenüber dem Telefonat einen Distanzvorteil, es erlaubt aber auch auf engstem Raum, die eigene Position klar und deutlich zur Sprache zu bringen, ohne dass man dabei Gefahr läuft, sich mit dem anderen in einen emotional aufgeladenen Dialog zu begeben: »Ich bin empört über die gewaltsamen Angriffe gegen Dich vor dem Parteitag. Dadurch wurde die – wie ich meine – berechtigte Demonstration gegen die Politik der SPD entwertet und diskreditiert. Der Marxismus unterscheidet sich von Anarchismus nicht zuletzt dadurch, daß er den individuellen Terror ablehnt. Abgesehen von den tiefgreifenden und grundsätzlichen Gegensätzen, die uns politisch trennen, finde ich es ungerecht – wenn schon falsche Methoden angewandt werden –, gerade gegen den liberalsten SPD-Führer vorzugehen. Die in Nürnberg aufgetretene Minderheit von Provokateuren ist der außerparlamentarischen Opposition innerhalb der SPD, besonders aber der revolutionär-marxistischen Tendenz in den Rücken gefallen. Alles Gute – Peter.« Willy Brandt hat das Telegramm am nächsten Tag nicht ohne Stolz den führenden Genossen gezeigt, die nicht selten, allen voran Helmut Schmidt, von ihm ein energisches Durchgreifen Peter gegenüber verlangt hatten. Das Telegramm des Sohnes an den Vater klingt wie eine genau austarierte Positionsbestimmung, das Gefühl der Empörung, das zum Ausdruck gebracht wird, wird sofort von politisch-historischen Erklärungen ummantelt, der familiäre Einstieg hintangestellt und verdrängt von einem Verlautbarungsteil. Der Sohn, so das Signal, bleibt sich politisch treu, knickt nicht ein, solidarisiert sich aber mit dem Vater, der weniger als Vater, sondern als politischer Führer gesehen und angesprochen wird, Politiker spricht zu Politiker.
Im Juli 1968 lag Peter Brandt nach einer Blinddarmoperation im Krankenhaus und fand Zeit zum Nachdenken. Er schreibt am 17. Juli 1968 einen langen Brief an Willy Brandt: »Lieber Vati, vielen Dank für Deinen Brief und auch für das Geld, das Lars mir mitgebracht hat! [ … ] Immer wieder tauchen in der Regenbogen-Presse einfach erfundene Meldungen über mich und Maria auf, z.B. in der »Bild« über ein Interview, was nie stattgefunden hat. Trotzdem sage ich nicht mehr eine Silbe und habe damit gute Erfahrungen
Weitere Kostenlose Bücher