Die Familie Willy Brandt (German Edition)
das Gespräch auf die lange Bank. In der Zwischenzeit begegnete ich einer Reihe von Leuten, die versucht hatten, Lars kennenzulernen. Ein Biograph des Vaters, der ihn einmal getroffen hatte, meinte, er sei »verschlossen wie eine Auster«. Er habe bei ihrem Treffen mehr oder weniger nichts gesagt. Ich traf andere, die ähnliche Geschichten erzählten. Ein abweisender Mensch. Mensch im Panzerschrank. Nach innen ausgewandert. Schwierig. Sperrig. Eingekapselt. Lebt mit seiner Frau in stiller, einsiedlerischer Zweitracht. All das erschien mir keineswegs unsympathisch. Es steigerte mein Interesse, aber auch meine Beklommenheit. Ich las seine Bücher. Das Erinnerungsbuch »Andenken«, den nachfolgenden Roman »Gold und Silber« und den zweiten Roman »Alles Zirkus«. Ich klopfte die Texte auf biographische Einsprengsel ab. Wo war Lars Brandt hier auffindbar? Das erste Buch, mit dem er an die Öffentlichkeit trat, war ein Interviewband mit dem von ihm hochgeschätzten österreichischen Dichter H. C. Artmann. Wie sehr ihn Artmann angezogen und beeinflusst hatte, würde ich später herausfinden. Das Buch war 2001 erschienen. Ein Jahr zuvor hatte Lars Brandt den schwerkranken Artmann in Wien besucht, einen Dokumentarfilm über ihn gedreht und das lange, mehrere Tage dauernde Interview schließlich als Buch veröffentlicht. Ich stieß darin auf eine Frage des Interviewers Brandt, die fast keine Frage mehr war, sondern bereits eine Antwort zu enthalten schien. Eine Frage überdies, die ganz unvermittelt und ohne Anknüpfungspunkt zwischen den beiden im Raum stand: »Muss alles immer wie geschmiert laufen, oder ist es denkbar, dass etwa Stolpern oder Lispeln einen Wert haben, oder Stottern?« Sprach da Lars Brandt zu sich selbst? Von sich selbst? War das eine Verteidigung der stockend-tastenden Rede, die sich nicht sofort als gefällige Betriebs- und Werbesprache anschmiegt?
Ich bildete mir ein, einen Umriss zu erkennen. Als »Andenken« erschienen war und ein Riesenerfolg wurde, hatte Lars eine Vielzahl von Fernseh- und Radiointerviews zu geben. Ich studierte das Material. Da sprach einer, der Pausen um sich herum entstehen ließ, dessen Sätze schon mal abrissen, der zwar eloquent war, der aber offenbar das eigene Sprechen nur als unzureichendes Abbild seines Denkens betrachtete und darüber immer schweigsamer wurde. Ist nicht alles viel komplizierter, als meine Sätze hier auszudrücken vermögen? Ein Sprachskeptiker? Stotterte da einer nach innen, weil ihm der Redefluss außen verdächtig erschien? Es war förmlich zu hören, wie seine Gegenüber, die Moderatoren mit den geschulten, munteren Stimmen, immer unruhiger wurden, wie sie Momente der Stille und des Zögerns zu überbrücken suchten, wie sie den Hörer oder Zuschauer da draußen nicht verlieren wollten, während der Gast an dieses Außen wenig zu denken schien oder, wenn er an es dachte, nur widerwillig zu Konzessionen bereit war. Nein, wohl fühlte er sich nicht vor den Mikrophonen und Kameras, er spielte mit, ohne jedoch selbst zum Spieler zu werden, er spielte sich nicht frei, er schlüpfte in kein kurzweiliges, verkaufsstimulierendes Medien-Ich.
Gerade, im Februar 2012, war sein neuer Roman »Alles Zirkus« erschienen. Furore machte das Buch kaum, die Bestsellerlisten erklomm es nicht, die einen lobten, die anderen verrissen es. Ein stilles Buch. Es ist die Geschichte eines Mannes, eines Werbeprofis, dem die Gewissheiten abhandenkommen, dem die Wirtschaftskrise zusetzt, der in eine Beruf-, Beziehungs- und Orientierungskrise hineinrutscht. Alles abwärts? Der Mann hat Alpträume, in denen er sich in einen Clown verwandelt, tagsüber bekommt er seltsame Mails, in denen ihm Clownbedarf en gros angeboten wird, und schließlich kommt ihm das Leben im entfesselten Kapitalismus wie ein Zirkus vor. In einer Literatursendung hatte Lars Brandt sein Buch vorgestellt. Mit ihm war ein anderer Schriftsteller eingeladen, der auch einen Roman geschrieben hatte, in dem es irgendwie um die Krise ging. Die Moderatorin fragte beide Schriftsteller, ob sich die Literatur angesichts der globalen Erschütterungen nicht auch neu justieren, kämpferischer und engagierter zu Werke gehen müsse? Der andere Schriftsteller, ein eloquenter, junger Mann bejahte das. Ja, sagte er, die Literatur müsse sich mal wieder einmischen, die poetische Klappe aufreißen. Lars Brandt widersprach. Die Literatur sei gut beraten, sich auf sich selbst zu konzentrieren, erst so könne sie sich zu sich
Weitere Kostenlose Bücher