Die Familie Willy Brandt (German Edition)
selbst kommen. Einige Wochen darauf stellt er das Buch im Rahmen der Buchmesse in Leipzig vor. Ich steige in den Zug. Vielleicht ergibt sich ein Gespräch?
Als ich den Bahnhof verlasse, überquere ich den Willy-Brandt-Platz.
Lars Brandt liest im Clown-Museum. Das private Museum beherbergt die private Sammlung eines Mannes, der sich ein Leben lang für die Welt der Clowns begeistert hat. So sieht es aus: Eine wilde, bunte Sammlung. Der Raum, in dem Lars Brandt liest, ist klein. Es sind etwa dreißig Zuhörer gekommen. Ich bin aufgeregt wie ein Kind, sitze in der zweiten Reihe. Lars blinzelt in den Raum. Legt seine Armbanduhr ab, legt sie vor sich auf den Tisch. Links und rechts des Lesetischchens stehen zwei Schaufensterpuppen im Clownskostüm. Rote Nase, unheimlich starrer, freudloser Blick. Der Schriftsteller liest, unterbricht sich nach fünf Minuten und fragt, ob er gut zu verstehen sei.
Wie liest er? Er nuanciert wenig, trägt nicht dick auf, liest mit sicherer, aber nach innen weisender Stimme. Er ist kein Eroberer, kein Ich-fessle-euch-alle-Vorleser, kein Mann der großen Geste. Am kleinen Finger der linken Hand trägt er einen goldenen Ring, der blitzt, als sei er frisch poliert. Und sonst?
Lars Brandt, gesehen von seiner Frau, der Fotografin Renate Brandt
[Lars Brandt/Renate Brandt]
Ich taste den Mann fragend und suchend ab, aber ein spektakulärer Schlüsselmoment zeigt sich nicht. Das ist ein Mann, der nicht gern in der Menge badet, keiner, der sich gerne schnell berühren ließe. Bei der anschließenden Diskussion zeigt er nur an einer Stelle so etwas wie Gefühl und Erregung. Als die Sprache auf den vergessenen Maler Richard Linder kommt, der in dem Roman eine gewichtige Rolle spielt, empört er sich deutlich über die alte Bundesrepublik, die verfemte, verfolgte und ins Exil gezwungene Künstler nicht stärker umworben und ins Land zurückgeholt habe, während »alte Nazis« nur zu willkommen gewesen seien in der braunstichigen Republik. Ich stelle keine Frage, mir fällt keine ein. Dann signiert er. Ich trete an den Tisch.
»Was soll ich hineinschreiben?«
»Who needs a clown?«, antworte ich und halte das für eine irgendwie intelligente Idee. Der Satz ist ein Zitat von Artmann, das Lars Brandt dem Buch vorangestellt hat. Er ist irritiert. »Nur das? Noch mal?«
»Ja!«, antworte ich und merke in diesem Moment selbst, dass sich gute Ideen schnell als verquollener Plunder herausstellen können. Ich bedanke mich und fahre nach Berlin zurück.
Meine anfängliche Annahme, ich könnte die fehlende Begegnung mit Lars Brandt auffangen, indem ich andere bat, ihn mir vor Augen zu stellen, stellte sich bald als Trugschluss heraus. Ich fand kaum jemanden, der ihn kannte, und die, die ihn kannten, kennen mochten, wagte ich nicht zu kontaktieren, weil ich anfing, mich wie ein Detektiv zu fühlen. Wolltest du nicht ein Buch schreiben? Ich entwarf wieder und wieder den richtigen Brief und warf Blatt um Blatt in den Papierkorb. Auch fand ich niemanden, der mir seine Adresse geben konnte oder wollte, und – da war ich mir sicher – ich würde erst den richtigen Brief schreiben, wenn ich die richtige Adresse hätte. Albern? Schließlich stieß ich auf einen früheren Mitarbeiter seines Vaters, der mit ihm korrespondiert hatte. Ich war diesmal entschlossen genug, den Brief zu beenden und abzuschicken. Ich schrieb schnell und ohne Innehalten.
Der Brief wurde viel zu lang, aber ich hatte bereits zu viel über den Adressaten nachgedacht, um mich kurz fassen zu können. »Ich denke«, so lautete ein Satz, »dass man Familiengeschichten nicht als auktorialer Erzähler darstellen kann, und ich glaube auch nicht an lineare Entwicklungsgeschichten und ihre Fähigkeit, das Leben in seinen Falten, Schattenströmen, Nischen und Verkleidungen abzubilden. Daher will ich sehr offen erzählen, Fragmente anbieten, geforderte Antworten weglassen und auf verleimende Interpretationen verzichten. Viele Fragen, die mir zu Ihnen einfallen, haben gar nichts mit Ihrer Familie zu tun, da mir scheinen will, dass Sie früh ein Eigener gewesen sind.« Mmmh, denke ich beim Blick auf die Kopie meines Briefes vom 1. Oktober 2012, klingt reichlich hochstaplerisch. Woher sollte ich wissen, ob er früh ein Eigener gewesen ist? Ist das nicht – aus der Ferne – ein anmaßendes Urteil? Ich war erleichtert, als der Brief unwiderruflich im gelben Maul verschwunden war.
Am 4. Oktober antwortete er. Ich war gespannt. Er schrieb mit Tinte.
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