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Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Titel: Die Familie Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Körner
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und stellt eher keine Frage. Es geht augenscheinlich darum, den anderen, uns, vorzuführen, dass man den dort kennt, das man zu seiner Vergangenheit gehört, dass man – auf welch verschlungene Weise auch immer – selbst in den Zirkel dieser Familie gehört. Lars Brandt geht kaum auf ihn ein. Es scheint so, als habe er eine gewisse Routine im Umgang mit diesem Phänomen.
    Das Wiedersehen findet in Bonn statt. Wir treffen uns auf seinen Vorschlag in einem Lokal namens »Weinkommissar«. Seine Frau ist mitgekommen. Renate. Sie sieht wie eine Frau aus, die lange auf einen tintenschwarzen Fluss geblickt hat. Sie stammt aus Hannover. Sie sind ein »altes« Ehepaar. Keiner ohne den anderen und jeder für sich. Ohne Kind. Eine Katze ging zwanzig Jahre zwischen ihnen hin und her. Sah ihm beim Malen zu oder legte sich auf seinen Schreibtisch. Wie er trägt sie den Ehering am kleinen Finger.
    »Tragen Sie Ihren Ehering aus ästhetischen oder antibürgerlichen Gesichtspunkten auf dem kleinen Finger?«
    Sie sehen sich an. Lächeln. »Von beidem etwas!«, sagt sie und dann schaut sie wieder auf den Fluss.
    Sei ihm bewusst gewesen, dass das Pseudonym David Stein, unter dem er als Maler gearbeitet und ausgestellt habe, der Name eines der größten Kunstfälscher war?
    »Nein, das wusste ich nicht. Ich hab mir den Namen selbst überlegt. Ich habe ja auch den Namen ›Silk Therror‹ benutzt, ein spielerisches Pseudonym, mit dem ich auch meine Briefe oft unterschrieben habe.« Ich bin nicht sicher, wo er ist, wenn ich frage, und ich finde nicht heraus, wohin er geht, wenn er antwortet. Immer ist etwas Suchendes in seinem Blick. Lässt sich leicht aus der Bahn werfen. Stößt leicht an. Als jemand die Tür des Lokals offenstehen lässt – es zieht kalt herein –, springt er auf, bittet, man möge sie doch schließen. Ich bin dankbar für seine Initiative. Dann sitzen wir wieder zu dritt. Obwohl die Atmosphäre entspannt ist – und beim Abschied sagen wir drei ehrlichen Herzens »Es war ein netter Abend« und lächeln –, zuckt jeder von uns auf seine eigene nervöse Weise. Manchmal kann es gar nicht darum gehen, etwas zu erfahren, und Kenntnis entsteht, obgleich man schweigt. Hätte ich ein Aufnahmegerät auf den Tisch gelegt, wäre alles gestorben.

    Wir schreiben uns jetzt hin und wieder, Briefe, auch Mails. SMS liest Lars Brandt kaum. Sein Handy, kein Smartphone, ist selten eingeschaltet. Ich lege ihm manche Frage vor. Manchmal empfiehlt er ein Buch, manchmal mache ich ihn auf etwas aufmerksam. Ich frage ihn – per Mail –, ob er einmal in Auschwitz gewesen sei, weil ich überlege, ein Kapitel unter diese Überschrift zu stellen. Muss dieser Ort – Willy Brandt hat ihn in seinen Reden oft die »Hölle auf Erden« genannt – nicht eine besondere Bewandtnis für diese Familie haben? Brandts Kniefall, seine Versöhnungspolitik? Ist der Höllenort Auschwitz nicht der deutsche Erinnerungsort, der vor allem die Generationen von Peter, Lars und Matthias prägte? Wie haben sie sich mit diesem Ort auseinandergesetzt, ihn erlebt? Lars schreibt: »Nein, in Auschwitz war ich nie. Natürlich überschattet dieses Wort auch mein Leben. Ich habe mich viel mit der Geschichte des Nazismus befaßt. Bei den Reden und Aufsätzen, die ich für meinen Vater entworfen habe, spielten Themen aus diesem Zusammenhang oft auch eine wichtige Rolle. – Faßt man hingegen alles, was die damalige Furchtbarkeit ausmacht, unter dem Namen Auschwitz zusammen, könnte die einzigartige Unfaßbarkeit dieser Institution faktisch überdeckt werden, fürchte ich, auch wenn man das nicht beabsichtigt.« Ich überlegte, was er damit meint. Meint er, meine Kapitelüberschrift sei unzulässig, weil sie weniger auf den Ort, sondern eher auf eine Begegnungs- und Empfindungsgeschichte zielt? Nämlich die der Familie Brandt? Meint er, ich würde so die Schrecken des Ortes unfreiwillig relativieren, indem ich mehr auf seine Besucher als auf den Ort selbst sehe? Warum fragte ich ihn nicht? Es überraschte mich zu hören, dass keiner aus der Familie Brandt Auschwitz besucht hatte. Natürlich waren sie, wie Lars schrieb, seelisch und emotional oft dorthin gewandert, aber physisch hatten sie diesen Ort, diesen Unort, den Martin Walser 1965 in einem Essay »Unser Auschwitz« nannte, nicht betreten – weder Rut, Peter, Matthias noch Willy Brandt. Der erste Bundeskanzler, der Auschwitz schließlich besuchte, war 1977 Helmut Schmidt.

    Unser Faden riss einstweilen

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