Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Er bedankte sich für den freundlichen Brief: »Ich entnehme ihm, daß Ihnen bewußt ist, wie wenig die Zurückhaltung, mit der ich Ihrem Vorhaben begegnet bin, mit Ihrer Person zu tun hat. Ich wollte Ihnen das Leben wirklich nicht schwer machen, darum ging es bestimmt nicht.« Die kleine, sanft swingende Handschrift sah der seines Vaters nicht unähnlich. Keine auftrumpfend großen, keine marschierenden, paradierenden Buchstaben, keine zackig spitzen Übergänge, sondern weich ineinanderfließende Zeichen. Gut lesbar, alte Rechtschreibung (offenbar ein Traditionalist), die Unterschrift setzt sich nicht majestätisch vom Rest des Briefes ab, sondern bleibt dem Stil des Textes treu. Der ganze Brief war keineswegs so verschlossen und abweisend, wie ich erwartet hatte, sondern zugewandt, einfühlsam und offen. Er wolle sich nun meinem Wunsch, ihn kennenzulernen nicht länger verschließen. Ob ich einen Vorschlag machen wolle? Wie, wo, wann? Ich schlug Hildesheim vor, dort las er aus »Andenken«.
Er ist überraschend groß. 1 Meter 83. Ähnelt mehr dem Vater als der Mutter. Zerstrubbelte graue Haare, halblanger Wollmantel, schwere Brille, ginge auch als Highbrow-Rockstar durch. Elvis Costello oder Paul Weller. Rockstars jedoch stelle ich mir lärmiger, weniger introvertiert vor. Im Taxi zum Hotel. Verbale Annäherungen. Das Hotel Timphus beherbergt auch eine traditionsreiche Bäckerei mit Café. Oder ist es umgekehrt? Das Café im Wiener Stil zeigt viel Holz, plüschige Pracht, Kronleuchter, Spiegelwände, eine Nostalgie-Orgie, wir tauchen in die siebziger Jahre. Käme jetzt Willy Brandt zur Tür herein, wäre man kaum erstaunt. In der Ecke sitzt ein graugerauchter, magerer stoppelbärtiger Mann, der soeben aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt zu sein scheint. Die Bäckerei Timphus: Familienbetrieb seit 1965, Meister- und Gesellenbriefe über drei Generationen, in einer Ecke steht, gut ausgeleuchtet, die geschnitzte Nothelferin des Bäckerhandwerks, die heilige Notburga, die die Armen speiste und einmal eine Sichel in den Himmel warf, wo sie an einem Sonnenstrahl hängen blieb.
Lars Brandt bestellt ein Mettwurstbrot. »Ich erzähle Ihnen jetzt einmal eine Anekdote …«, sagt er, aber die Anekdote taucht nicht auf. Er wirkt scheu, ein leichtes Zittern läuft durch den Mann, dieses Kennenlernen ist Arbeit für ihn. Über die Familie spricht er nicht, das Verhältnis zu seinem Vater stellt er auffällig lakonisch und unkompliziert dar. Sie hätten immer ein gutes, ja mitunter ein lustiges Verhältnis gehabt. Manchmal habe er an seinen Reden mitgeschrieben, und zusammen mit Klaus Harpprecht habe er auch an zwei Erinnerungsbüchern seines Vaters mitgearbeitet: »Begegnungen und Einsichten« (1976) und »Links und frei« (1982). Man habe sich in Bad Münstereifel getroffen, sich Texte zugespielt und zusammengefügt. Er habe versucht, immer so viel Thomas-Mann-Bezüge oder Zitate wie möglich in die Werke seines Vaters einzuschmuggeln. Er betont mehrfach die enge Beziehung zu seiner Frau Renate. Auch H. C. Artmann taucht auf. Zu seinen Lesungen in Bonn oder Köln sei er wie zu einem Popstar gepilgert. Er lebe gern in Bonn, ärgere sich daher über Pseudobescheidwisser und Boulevardjournalisten, die die Stadt als »Bundesdorf« verspotten. Tatsächlich beheimate die Stadt eine lebendige, international verflochtene Kultur- und Galerieszene, »das haben meine Eltern gar nicht so wahrgenommen«, und sagt: »Wussten Sie, dass Bonn die erste Sigmar-Polke-Ausstellung gezeigt hat, noch vor Berlin?« (Ich wusste es nicht). »Andenken«, das Buch über seinen Vater, habe er aus eigenem Antrieb begonnen, eine Verlagsanfrage gab es nicht.
Er isst sein Brot nur zur Hälfte. Die Pausen in unserem Gespräch schmerzen nicht. Die Kellnerinnen tragen gestärkte Schürzen. Lars Brandt beißt nicht. Aber er ist kein Plauderer. Kein Entspannungskünstler. Der ist noch unterwegs mit seinen jetzt 61 Jahren. Sieht jünger aus. Hat lange von Zweifeln gelebt. Etwas juckt innen. Wir gehen auseinander. Er will sich auf die Lesung am Abend vorbereiten. Der Raum ist gut besucht. Mir ist vor allem ein Mann erinnerlich, der sich in der anschließenden Fragerunde hervortat. Er saß in der ersten Reihe, trug eine Lederweste, längere strubbelige Haare und schwere Silberringe. Alle Zeichen standen auf Ich-bin-der-Unangepasste. Als er sich an Lars Brandt wendet, duzt er ihn, bedankt sich bei ihm, dass er ihm das Gitarrenspiel beigebracht habe,
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