Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Annäherungsversuch reagierte. Einige Tage nachdem Bahr seine Stelle als Pressechef des Regierenden Bürgermeisters angetreten hat, sitzen sich die Männer spätabends im Schöneberger Rathaus gegenüber, und Bahr versucht, sich ein Bild von seinem Chef zu machen, vorsichtiges verbales Herantasten: »›Eigentlich kennen wir uns noch gar nicht‹, war mein erster Satz. Schon bei dieser harmlosen Feststellung wurde sein Gesicht starr. Das musste eine Mimose sein, meine Bemerkung als plumpen Annäherungsversuch zu verstehen. Sein Mienenspiel empfand ich als warnende Zurechtweisung.« In den Ortsvereinen, an der Basis war der imaginäre »Willy« eine feste Größe, eben einer, mit dem man ein Bier trinken und Skat klopfen konnte und dem man gern familiär auf die Schulter klopft. Kein anderer deutscher Politiker wurde von der Bevölkerung mit »Willy, Willy!«-Rufen begrüßt, da war er einer wie »uns-Uwe« Seeler, eben ein Malocher. Doch wenn »Willy« dann in den Ortsvereinen auftauchte, verging jedem die Lust oder der Mut, derart kumpelhaft auf den Mann zuzugehen, der eher verlegen und introvertiert wirkte.
Willy Brandt hat – wie so vieles in seinem Leben – nie erklärt, warum er sich 1933 ausgerechnet diesen Namen zulegte, warum er ausgerechnet auf diesen Namen verfiel. Das reizte nicht nur die Brandt-Biographen, sondern jeden, der ihn besser kannte, jeden, der mitbekam, wie sehr es Brandt schmerzte, dass man diesen Namen antastete, an ihn rührte, ihn durch bösartige Polemik in Mitleidenschaft zog. Obwohl dieser Name doch ausgewählt worden war, um ihn zu schützen, wurde der Name selbst zum Problem, zum brennenden Hemd auf dem Leib. Warum? Als Heilwig Ahlers, die beste Freundin von Rut Brandt in den Bonner Jahren, Brandt einmal fragte, warum er sich gerade diesen Namen auserkoren habe, erhielt sie die einsilbige Antwort, der Name sei im Norden weit verbreitet und klinge daher unauffällig. Doch diese Erklärung ließ den Biographen keine Ruhe, die Herkunft des Namens sollte dingfest gemacht werden. Der Journalist Peter Koch versuchte, Brandts Namenswahl folgendermaßen herzuleiten: »In Lübeck war er oft an einem Seidenhaus vorbeigekommen, das sich ›Norddeutschlands größtes Spezialhaus für Seiden und Wollstoffe‹ nannte. Firmenslogan: ›Wer sparen will, der hat erkannt, am besten kauft man jetzt bei Brandt.‹ Martin Wein schlägt in seinem Buch »Willy Brandt. Das Werden eines Staatsmannes« folgenden Herkunftsnachweis vor: »Möglicherweise wurde der Reedereivolontär dabei durch den Namen der Lübecker Schiffsausrüsterfirma William Brandt Wwe. inspiriert. Übrigens unterschrieb er 1933 in Oslo selbst geheime Post noch monatelang mit ›Frahm‹ oder ›Herbert‹.«
Im Exil, das ein Gefahrenraum blieb, solange die Nationalsozialisten an der Macht waren, lebte Willy Brandt unter einer Vielzahl von Namen, weil er fürchten musste, verfolgt, entdeckt und nach Nazi-Deutschland abgeschoben zu werden. Es war daher überlebenswichtig, seine Identität zu verschleiern. Andererseits musste er sich in den Kreisen des Widerstands einen Namen machen, sich zu jemandem machen. Während er gegenüber den Behörden in Norwegen meist als Herbert Frahm auftrat, agierte er in Exilkreisen als Willy Brandt, unter diesem Pseudonym publizierte er auch die Mehrzahl seiner Bücher. Seine unzähligen Presseartikel aber veröffentlichte er zumeist unter Felix Frank oder Felix Franke, Martin, f.f. oder eben Willy Brandt. Als er 1936 illegal nach Berlin reiste, war sein Reisepass auf den Namen Gunnar Gaasland ausgestellt, der Name eines Mannes, der zum Schein seine damalige Freundin Gertrud Meyer geheiratet hatte. Während des Exils wird Brandt mehrfach verhaftet oder gerät in Gefangenschaft, in Holland, Norwegen und in Schweden. Er muss zwischen seinen Identitäten lavieren und immer jene wählen, die den jeweiligen Behörden am wenigsten verdächtig erscheint. Da er perfekt Norwegisch spricht, fällt es ihm leicht, auch die Nationalität zu tauschen, wenn es gefordert ist. Brandt muss in diesen Jahren also auch zu Namen Zuflucht suchen, die ihm zwar Deckung bieten, Tarn- und Zufluchtsnamen, aber verwachsen kann er nicht mit ihnen, solange sein Leben auf dem Spiel steht. Brandt macht eine paradoxe Erfahrung, denn er ist zwar der Besitzer von vielen Namen und Pässen, aber dennoch ist er namenlos, denn die wesentliche Funktion eines Namens, von anderen identifiziert und von sich selbst als Ich erkannt zu werden,
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