Die Farbe der Gier
hätte, würde ich sie jetzt öffnen, damit wir feiern können.« Tina ließ ihre Freundin endlich los.
»Ich gebe mich auch mit einer Tasse Kaffee zufrieden. Und mit noch einer Tasse Kaffee. Gefolgt von einem Bad.«
»Kaffee habe ich da.« Tina nahm Anna an der Hand und führte sie zu der kleinen Küche am Ende des Flurs. Anna hinterließ graue Fußabdrücke auf dem Teppich.
Sie setzte sich an einen kleinen, runden Holztisch und hielt die Hände im Schoß, während der Fernseher ohne Ton
Hintergrundbilder lieferte. Sie versuchte, reglos zu sitzen, war sich bewusst, dass alles, was sie anfasste, sofort mit Asche und Staub verschmiert sein würde. Tina schien das nicht zu bemerken.
»Ich weiß, das klingt jetzt vielleicht ein wenig seltsam«, sagte Anna, »aber ich habe keine Ahnung, was eigentlich los ist.«
Tina drehte den Ton auf.
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»Wenn du dir das 15 Minuten anhörst, weißt du Bescheid.«
Tina füllte die Kaffeekanne.
Anna sah endlose Wiederholungen von einem Flugzeug, das in den Südturm krachte, von Menschen, die sich aus den oberen Stockwerken in den sicheren Tod warfen, und vom Einsturz erst des Süd- und dann des Nordturms.
»Und ein weiteres Flugzeug ist ins Pentagon gestürzt?«, fragte sie.
»Wie viele Flugzeuge sind noch da draußen?«
»Es gab noch ein viertes.« Tina stellte zwei Becher auf den Tisch. »Aber niemand weiß genau, wohin es geflogen ist.«
»Möglicherweise zum Weißen Haus«, mutmaßte Anna und sah auf dem Bildschirm, wie Präsident Bush von der Barksdale Air Force Basis in Louisiana zur Nation sprach: »Damit wir uns nicht falsch verstehen, die Vereinigten Staaten werden diejenigen, die für diese feigen Taten verantwortlich sind, jagen und bestrafen.«
Die Bilder des zweiten Flugzeugs, das in den Südturm flog, flackerten wieder auf.
»Oh mein Gott«, meinte Anna. »Ich habe noch gar nicht an die unschuldigen Passagiere an Bord dieser Flugzeuge gedacht. Wer ist für all das verantwortlich?«, fragte sie, während Tina ihre Tasse mit schwarzem Kaffee auffüllte.
»Das Außenministerium hält sich noch ziemlich bedeckt«, antwortete Tina. »Und die üblichen Verdächtigen – Russland, Nordkorea, Iran und Irak – haben alle sofort ›Ich war’s nicht‹
gerufen und gelobt, alles zu tun, um die Verantwortlichen aufzuspüren.«
»Aber was sagen die Nachrichtensprecher? Die müssen doch nicht vorsichtig sein.«
»CNN zeigt mit dem Finger auf Afghanistan und insbesondere auf eine Terrorgruppe namens Al Kaida – ich glaube, so spricht 81
man das aus, aber ich bin mir nicht sicher, weil ich noch nie von denen gehört habe.« Tina setzte sich Anna gegenüber.
»Ich glaube, es handelt sich um einen Haufen religiöser Fanatiker. Aber ich dachte immer, die interessieren sich nur dafür, die Macht in Saudi Arabien zu ergreifen, um das Öl in die Finger zu kriegen.« Anna sah zum Fernsehgerät auf und lauschte dem Kommentator, der versuchte, sich vorzustellen, wie es im Nordturm gewesen sein musste, als das erste Flugzeug hineinflog. Woher willst du das wissen, hätte Anna ihn am liebsten gefragt. 100 Minuten auf wenige Sekunden verkürzt und dann immer und immer wiederholt, wie ein vertrauter Werbespot. Als der Südturm einstürzte und die Rauchwolke sich in den Himmel bauschte, fing Anna laut an zu husten und verteilte einen Ascheschauer auf ihre Umgebung.
»Alles in Ordnung?« Tina sprang von ihrem Stuhl auf.
»Ja, es geht mir gut.« Anna trank ihren Kaffee aus. »Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich den Fernseher ausschalte? Ich glaube, ich halte es nicht aus, wenn ich ständig daran erinnert werde, dass ich dort gewesen bin.«
»Natürlich nicht.« Tina griff nach der Fernbedienung und drückte auf den entsprechenden Knopf. Die Bilder schmolzen vom Schirm.
»Ich muss ständig an all unsere Freunde denken, die im Gebäude waren«, sagte Anna, während Tina ihren Becher erneut mit Kaffee füllte. »Ich frage mich, ob Rebecca …«
»Ich habe nichts von ihr gehört«, sagte Tina. »Barry ist der Einzige, der sich bislang gemeldet hat.«
»Klar, das glaube ich sofort, dass Barry der Erste war, der es die Treppe hinunter nach draußen geschafft hat. Er ist einfach über alle hinweggetrampelt, die sich ihm in den Weg stellten.
Aber wen hat Barry angerufen?«, fragte Anna.
»Fenston. Auf dem Handy.«
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»Fenston?«, rief Anna. »Wie hat er es fertig gebracht zu fliehen, wo das erste Flugzeug doch nur wenige Minuten, nachdem ich sein Büro verlassen habe, in
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