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Die Farbe der Gier

Die Farbe der Gier

Titel: Die Farbe der Gier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Farbe der Gier
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im vierten Stock und trifft sich selten mehr als ein Mal mit ein und derselben Frau. Er zahlt Sam jede Woche ein paar Dollar, um dafür zu sorgen, dass keine je erfährt, dass sie nicht die einzige Frau in Davids Leben ist.«
    »Das löst aber noch nicht das Bargeldproblem«, wandte Tina ein. »Vergiss nicht, du hast deine Geldbörse und die Kreditkarten bei dem Einsturz verloren, und ich hab nur noch 70
    Dollar.«
    »Ich habe gestern 3000 Dollar von meinem Konto
    abgehoben«, sagte Anna. »Wann immer man ein wertvolles Gemälde transportiert, darf man nicht Gefahr laufen, dass es Verzögerungen gibt, darum muss man darauf vorbereitet sein, 94
    unterwegs auch mal einem Gepäckträger etwas in die Hand drücken zu können. Außerdem habe ich noch 500 in der Nachttischschublade neben meinem Bett.«
    »Und du brauchst meine Uhr«, sagte Tina.
    Anna nahm ihre Uhr ab und tauschte mit Tina.
    Tina betrachtete Annas Uhr genauer. »Du wirst niemals vergessen, wie spät es war, als das Flugzeug in das Gebäude krachte«, sagte sie. Da piepste die Mikrowelle.
    »Das könnte ungenießbar sein«, warnte Tina, als sie die Reste des Hühnchen Chow Mein mit gebratenem Reis servierte. Beim Essen überlegten sich die beiden mögliche Alternativen, um aus der Stadt zu kommen, und welche Grenze wohl sicherer wäre.
    Als sie auch den letzten Bissen der Reste zusammen mit einer weiteren Kanne Kaffee verputzt hatten, waren sie alle möglichen Wege aus Manhattan heraus durchgegangen. Anna war sich immer noch nicht sicher, ob sie nach Norden oder Süden sollte.
    Tina stellte die Teller in die Spüle und sagte: »Warum entscheidest du nicht, welche Richtung deiner Meinung nach die Schnellste ist, während ich versuche, in deine Wohnung und wieder herauszukommen, ohne dass Sam misstrauisch wird?«
    Anna umarmte ihre Freundin erneut. »Sei vorsichtig«, sagte sie, »da draußen ist die Hölle los.«

    Tina stand auf der obersten Stufe ihres Wohnhauses und wartete einige Augenblicke. Etwas stimmte nicht. Und dann dämmerte es ihr. New York hatte sich urplötzlich verändert.
    Die Straßen waren nicht länger angefüllt mit diesen umtriebigen Keine-Zeit-für-einen-Plausch Menschen, die die energiegeladenste Masse auf Erden darstellten. Es fühlte sich für Tina wie ein Sonntag an. Aber auch wieder nicht wie ein Sonntag. Die Menschen standen reglos und blickten in die Richtung des World Trade Centers. Das einzige
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    Hintergrundgeräusch bildete der Lärm der unablässig heulenden Sirenen, die die Einheimischen ständig daran erinnerten – wenn sie diese Erinnerung überhaupt benötigten –, dass das, was sie in den Fernsehgeräten zu Hause, in Clubs, Bars, sogar in Schaufensterauslagen sahen, nur wenige Häuserblocks entfernt tatsächlich stattfand.
    Tina eilte auf der Suche nach einem Taxi die Straße entlang, aber die vertrauten gelben Autos waren von roten, weißen und blauen Löschfahrzeugen, Krankenwagen und Streifenwagen ersetzt worden, die alle in eine Richtung fuhren. Kleine Gruppen von Bürgern sammelten sich an Straßenecken, um den drei Hilfsdiensten zu applaudieren, wenn sie vorbeifuhren, als ob es junge Rekruten wären, die ihr Heimatland verließen, um einen fremden Feind zu bekämpfen. Man musste dafür nicht länger ins Ausland reisen, dachte Tina.
    Tina ging immer weiter, Häuserblock um Häuserblock. Die Skyline von New York dominierten nicht länger die stolzen, funkelnden Wolkenkratzer, denn nun wurden sie von einem dichten, grauen Nebel überschattet, der wie ein unwillkommener Besucher über der Stadt hing. Gelegentlich gab es Risse in dieser gottlosen Wolke und da entdeckte Tina zum ersten Mal die Metallzacken, die aus dem Boden ragten – das war alles, was von den größten Gebäuden der Welt noch übrig war. Der Zahnarzt hatte ihr das Leben gerettet.
    Tina ging an den leeren Geschäften und Restaurants einer Stadt vorbei, die niemals schlief. New York würde sich erholen, aber es würde nie wieder so sein wie früher. Terroristen waren einmal Menschen, die in weit entfernten Ländern lebten: im Nahen Osten, Palästina, Israel, sogar Spanien, Deutschland und Nordirland. Sie sah wieder zu der Wolke. Jetzt hatten sie in Manhattan Fuß gefasst und ihre Visitenkarte hinterlassen.
    Erneut winkte Tina, als ein Taxi vorüberfuhr. Sie hatte wenig Hoffnung. Doch mit quietschenden Reifen blieb der Wagen stehen.
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    ANNA SCHLENDERTE in die Küche zurück und fing an
    abzuspülen. Sie beschäftigte sich einfach in der

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