Die Farbe der Gier
Empfangsdame schien
gleichermaßen darüber verwirrt, wie eine Frau, die selbst gleich interviewt werden sollte, eine solche Frage stellen konnte.
Anna setzte sich an den Empfang und sah zur Kiste, die gegen die Wand lehnte. Sie lächelte bei dem Gedanken, wie sie es anstellen wollte, jemand um 60 Millionen Dollar zu erleichtern.
Pünktlichkeit war bei den Japanern zwanghaft, darum überraschte es Anna nicht, als zwei Minuten vor vier eine elegant gekleidete Dame auftauchte, sich verbeugte und Anna bat, ihr zu folgen. Sie sah ebenfalls zur Holzkiste, zeigte aber keine Reaktion, sondern fragte nur: »Möchten Sie, dass man die Kiste in das Büro des Vorsitzenden bringt?«
»Ja bitte.« Anna gab keine Erklärung ab.
Die Sekretärin führte Anna einen langen Flur entlang. Sie kamen an mehreren Türen vorbei, auf denen kein Name, Titel oder Rang stand. Als sie die letzte Tür erreichten, klopfte die Sekretärin leise an, öffnete sie und verkündete: »Dr. Petrescu.«
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Takashi Nakamura erhob sich hinter seinem Schreibtisch und trat vor, um Anna zu begrüßen, deren Mund weit offen stand.
Diese Reaktion wurde nicht von dem kleinen, schlanken, schwarzhaarigen Mann verursacht, der aussah, als ließe er seine Anzüge in Paris oder Mailand schneidern. Es war
Mr. Nakamuras Büro, das Anna nach Luft schnappen ließ. Der Raum bildete ein perfektes Quadrat und an einer der vier Wände befand sich ein Glasfenster. Anna starrte hinaus in einen stillen Garten, durch den sich von einer Ecke in die andere ein Bach zog. Eine Holzbrücke bog sich über ihn und Weiden, deren Zweige über das Holzgeländer fielen, säumten sein Ufer.
An der Wand hinter dem Schreibtisch des Vorsitzenden hing ein herrliches Gemälde, das exakt dieselbe Szene duplizierte.
Anna schloss den Mund und sah ihren Gastgeber an.
Mr. Nakamura lächelte. Er war offenbar entzückt von der Wirkung, die sein Monet hervorgerufen hatte, aber seine erste Frage schockierte sie gleichermaßen.
»Wie konnten Sie den 11. September überleben, wo Ihr Büro doch im Nordturm lag, wenn ich mich recht erinnere?«
»Ich hatte großes Glück«, erwiderte Anna leise. »Obwohl ich fürchte, dass einige meiner Kollegen …«
Mr. Nakamura hob eine Hand. »Ich entschuldige mich. Es war taktlos von mir. Wollen wir das Interview beginnen, indem ich Ihr bemerkenswertes fotografisches Gedächtnis teste und Sie nach der Herkunft der drei Gemälde in diesem Raum befrage?
Sollen wir mit dem Monet beginnen?«
» Weiden in Vetheuil « , sagte Anna. »Der frühere Besitzer war ein Mr. Clark aus Sangton, Ohio. Das Bild war Teil von Mrs.
Clarks Scheidungsvereinbarung, als ihr Ehemann
beschloss, sich von ihr, seiner dritten Frau, zu trennen, was traurigerweise bedeutete, dass er sich auch von seinem dritten Monet trennen musste. Christie’s hat das Ölgemälde für 26
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Millionen Dollar verkauft, aber ich wusste nicht, dass Sie der Käufer waren.«
Mr. Nakamura zeigte dasselbe vergnügte Lächeln.
Anna wandte ihre Aufmerksamkeit der gegenüberliegenden Wandseite zu und hielt inne. »Ich habe mich schon lange gefragt, wo dieses Gemälde sein mag. Es ist natürlich ein Renoir: Madame Duprez und ihre Kinder, auch bekannt als Die Lesestunde. Es wurde in Paris von Roger Duprez veräußert, dessen Großvater es 1868 dem Künstler abkaufte. Ich weiß daher nicht, wie viel Sie für das Ölgemälde bezahlt haben.«
Schließlich wandte Anna ihre Aufmerksamkeit dem letzten Bild zu. »Das ist leicht«, erklärte sie lächelnd. »Es ist eine der letzten Salonarbeiten Manets, wahrscheinlich 1871 entstanden …« Sie hielt inne. »… mit dem Titel Abendessen im Café Guerbois. Sie werden bemerkt haben, dass Manets Geliebte in der rechten Ecke sitzt und den Künstler direkt ansieht.«
»Und der frühere Besitzer?«
»Lady Charlotte Churchill, die nach dem Tod ihres Ehemannes gezwungen war, es zu verkaufen, um die
Erbschaftssteuer zu bezahlen.«
Nakamura verneigte sich. »Sie haben die Stelle.«
»Die Stelle, Nakamura San?«, fragte Anna erstaunt.
»Sind Sie nicht hier, um sich für die Stelle als Direktorin meiner Stiftung zu bewerben?«
»Nein.« Anna wurde plötzlich klar, was die Empfangsdame gemeint hatte, als sie sagte, der Vorsitzende interviewe noch einen anderen Bewerber. »Obwohl es mir schmeichelt, dass Sie mich überhaupt in Betracht ziehen, Nakamura San. Aber eigentlich bin ich in einer völlig anderen Angelegenheit gekommen.«
Der Vorsitzende nickte, augenscheinlich
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