Die Farbe der Gier
Arabella. »Ich bin auf jeden Fall wach.«
Sobald Anna den Hörer aufgelegt hatte, ging sie ihre Strategie für das Treffen mit Nakamura durch. Eigentlich hatte sie in den vergangenen zwölf Stunden an nichts anderes gedacht.
Sie wusste, dass Arabella mit einer Summe glücklich sein würde, die sie ihre Schulden bei Fenston Finance begleichen ließ und ihr erlaubte, das Anwesen aus den Händen der raffgierigen Gläubiger zu reißen – mit genug Rest, um alle Steuern zu entrichten. Anna rechnete sich dafür eine Summe von circa 50 Millionen Dollar aus. Sie hatte bereits beschlossen, dass sie sich mit dieser Summe zufrieden geben würde – und der Chance, ohne den Beinamen ›Vermisst‹ nach New York zurückzukehren und sich wieder den beiden Schleifen im Central Park widmen zu können. Möglicherweise würde sie 255
Nakamura auch nach den Einzelheiten der Stelle befragen, für die sie nicht interviewt worden war.
Anna ließ sich Zeit in der Badewanne, die von heiß zu lauwarm abkühlte – ein Luxus, den sie sich normalerweise nur an Wochenenden erlaubte. Sie lächelte bei dem Gedanken daran, wie Nakamura sein Geschenk geöffnet hatte. Für alle ernsthaften Sammler war es ebenso spannend, einen neuen Meister zu entdecken, wie gewaltige Summen für einen bereits etablierten Künstler auszugeben. Wenn Nakamura die kühne Pinselarbeit und das Flair des Bildes sah, würde er Freiheit bestimmt in seine private Sammlung integrieren. Das war immer der ultimative Test.
Anna dachte lange und intensiv darüber nach, was sie zu ihrer zweiten Begegnung anziehen sollte. Sie entschied sich für ein beigefarbenes Leinenkleid mit moderater Rocklänge, einen breiten, braunen Ledergürtel und eine einfache Goldkette – ein Outfit, das in New York als prüde galt, in Tokio jedoch beinahe als anstößig. Gestern hatte sie sich für ihren Eröffnungszug gekleidet, heute für das Schlussmanöver.
Sie öffnete zum dritten Mal an diesem Morgen ihre Handtasche, um nachzusehen, ob sie die Kopie von Dr. Gachets Brief an van Gogh eingesteckt hatte, ebenso wie den einfachen, einseitigen Vertrag, der unter anerkannten Händlern als Standard galt. Wenn sie sich mit Nakamura auf einen Preis einigen konnte, würde Anna zehn Prozent Anzahlung verlangen, als Vertrauensbeweis. Das Geld würde zurückbezahlt, sollte eine Inspektion des Meisterwerkes nicht zufrieden stellend ausfallen.
Anna war jedoch der festen Überzeugung, sobald er das Original auch nur sah …
Anna schaute auf ihre Uhr. Das Treffen mit dem Vorsitzenden war für 10 Uhr angesetzt und er hatte versprochen, seine Limousine um 9 Uhr 40 zu schicken, um sie abzuholen. Sie würde in der Lobby warten. Die Japaner verloren rasch die Geduld mit Menschen, die Spielchen spielten.
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Anna fuhr mit dem Aufzug in die Lobby und ging zur Rezeption.
»Ich möchte heute noch auschecken«, sagte sie. »Würden Sie bitte meine Rechnung vorbereiten?«
»Gern, Dr. Petrescu«, erwiderte die Empfangsdame. »Darf ich fragen, ob Sie etwas aus der Mini-Bar hatten?«
Anna überlegte kurz. »Zwei Evian.«
»Danke.« Die Empfangsangestellte tippte die Information in einen Computer, als ein Page auf Anna zugelaufen kam.
»Ein Chauffeur ist hier, um Sie abzuholen«, sagte er nur, bevor er Anna zum wartenden Wagen führte.
Jack saß bereits in einem Taxi, als Anna am Eingang auftauchte. Er war wild entschlossen, sie kein zweites Mal zu verlieren. Schließlich konnte die Kurzhaarige irgendwo auf sie warten, schon wissend, wohin Anna fuhr.
Olga Krantz hatte die Nacht ebenfalls in der Innenstadt von Tokio verbracht, aber anders als Anna Petrescu nicht in einem Hotelbett. Sie hatte in der Kabine eines Krans geschlafen, etwa 50 Meter über der Stadt, überzeugt davon, dass dort oben niemand nach ihr suchen würde. Sie starrte auf Tokio herab, als sich die Sonne über den kaiserlichen Palast erhob, und sah dann auf ihre Uhr. 5 Uhr 56. Zeit für den Abstieg, wenn sie unbemerkt verschwinden wollte.
Sobald Olga Krantz wieder festen Boden unter den Füßen hatte, schloss sie sich den Büroangestellten und
frühmorgendlichen Pendlern an, die im Untergrund abtauchten und zur Arbeit fuhren.
Sieben Haltestellen später kam Olga Krantz in der Ginza wieder zum Vorschein und eilte zügig zum Seiyo. Sie glitt in das Hotel, ein Stammgast, der nie eincheckte und nie über Nacht blieb.
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Olga Krantz stellte sich in der Ecke der Lounge auf, wo sie perfekte Sicht auf die beiden Aufzüge hatte, während sie
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