Die Farbe der Gier
ankommen, wenn sie sich gerade auf den Weg nach London machte.
Als Anna auf den Bürgersteig trat, entdeckte sie zu ihrer Freude einen lächelnden Sergei, der vor seinem gelben Mercedes stand. Er öffnete den hinteren Wagenschlag für sie.
Jetzt hatte sie nur noch das Problem, dass sie kaum genug Bargeld besaß, um die Fahrt zu bezahlen.
»Wohin?«, fragte er.
»Zuerst muss ich zur Akademie«.
Anna hätte Sergei gern alles mitgeteilt, was sie durchgemacht hatte, aber sie fand, dass sie ihn immer noch nicht gut genug kannte, um das zu riskieren. Menschen nicht zu vertrauen war noch so eine Erfahrung, die ihr nicht gefiel.
Sergei setzte sie am Fuß der Treppe ab, wo sie Anton zuletzt gesehen hatte, bevor sie zum Flughafen aufgebrochen war.
Dieses Mal musste sie Sergei nicht bitten, auf sie zu warten. Die 273
Studentin, die an der Empfangstheke Dienst hatte, teilte Anna mit, dass Professor Teodorescus Vorlesung zum Thema
›Zuschreibung‹ gleich beginnen würde.
Anna bahnte sich ihren Weg zum Hörsaal im ersten Stock. Sie folgte zwei Studenten in den Saal, kurz bevor das Licht heruntergedreht wurde, und glitt auf einen Sitz in der zweiten Reihe. Anna freute sich auf einige Minuten Flucht aus der realen Welt.
»Zuschreibung und Provenienz«, fing Anton an und fuhr sich in einer vertrauten Geste, die seine Studenten hinter seinem Rücken imitierten, mit der Hand durch die Haare, »sorgen für mehr Diskussionen und Auseinandersetzungen unter
Kunstgelehrten als jedes andere Thema. Warum? Weil es sexy ist, weil man darüber debattieren kann und weil immer Raum für Spekulationen bleibt. Zweifellos stellen derzeit mehrere der bekanntesten Galerien weltweit Gemälde aus, die nicht von den Künstlern gemalt wurden, deren Name neben dem Rahmen steht. Es ist natürlich möglich, dass der Meister die Hauptfigur gemalt hat, beispielsweise die Jungfrau Maria oder Christus, und ein Assistent den Hintergrund ausmalte. Wir müssen daher überlegen, ob Gemälde, die alle dasselbe Thema zeigen, von ein- und demselben Meister ausgeführt wurden oder ob es nicht wahrscheinlicher ist, dass einige davon, möglicherweise sogar mehrere, die Werke seiner besten Schüler sind, aber Jahrhunderte später als die Arbeiten des Meisters selbst fehlgedeutet wurden.« Anna lächelte bei dem Begriff ›beste Schüler‹ und sie erinnerte sich an den Brief, den sie an Danuta Sekalska weiterleiten sollte.
»Wir wollen uns jetzt einige Beispiele ansehen«, fuhr Anton fort. »Schauen Sie, ob Sie die Hand eines geringeren Sterblichen erkennen können. Das erste Bild wird derzeit im Frick Museum in New York ausgestellt.« Auf der Leinwand hinter Anton tauchte ein Dia auf. »Rembrandt, höre ich Sie rufen, aber das Rembrandt-Forschungsprojekt, das 1974 eingerichtet wurde, 274
würde Ihnen da nicht zustimmen. Dort glaubt man, dass Der polnische Reiter die Arbeit mindestens zweier Paar Hände ist, von denen eines möglicherweise – ich wiederhole,
möglicherweise – Rembrandt gehörte. Das Metropolitan Museum, nur wenige Häuserblocks vom Frick entfernt auf der anderen Seite der Fifth Avenue, konnte seine Angst nicht verbergen, als dieselben angesehenen Experten erklärten, die beiden Porträts der Familie Beresteyn, die 1929 vom Museum erworben wurden, seien nicht von dem niederländischen Meister gemalt worden. Bekommen Sie jetzt aber keine schlaflosen Nächte angesichts der Probleme dieser beiden großartigen Institutionen, denn von den zwölf Gemälden der Wallace Collection in London, die man Rembrandt zuschreibt, wurde nur eines, nämlich Titus van Rijn, der Sohn des Künstlers, für echt befunden.« Anna war so fasziniert, dass sie sich Notizen machte. »Ich möchte Ihnen nun einen zweiten Künstler vorstellen, den großen, spanischen Maestro Goya. Zur großen Verlegenheit des Prado in Madrid, hat Juan Jose Junquera, der weltweit führende Experte in Sachen Goya, erklärt, dass die
›schwarzen Gemälde‹, zu denen so quälende Visionen wie Satan verschlingt seine Kinder gehören, nicht von Goya stammen können, da der Raum, für den sie als Wandgemälde entstanden sind, erst nach Goyas Tod fertig gestellt wurde. Der ausgezeichnete australische Kritiker Robert Hughes äußert in seinem Buch über den Künstler die Vermutung, dass es sich um die Arbeiten von Goyas Sohn handeln könnte. Und jetzt komme ich zu den Impressionisten. Diverse Gemälde von Manet, Monet, Matisse und van Gogh, die derzeit in den führenden Galerien der Welt
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