Die Farbe der Gier
ausgestellt werden, wurden von den relevanten Experten noch nicht als echt bestätigt. Die Sonnenblumen, die 1987 bei Christie’s für etwas unter 40
Millionen Dollar unter den Hammer kamen, müssen von Louis van Tilborgh vom Van Gogh Museum erst noch für echt erklärt werden.«
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Als Anton das nächste Dia zeigte, fiel sein Blick auf Anna. Sie lächelte und prompt legte er einen Raphael anstatt eines van Goghs ein, was unter den Studenten zu Gelächter führte. »Wie Sie sehen, bin auch ich in der Lage, ein Gemälde dem falschen Künstler zuzuordnen.« Das Lachen verwandelte sich in Applaus.
Aber zu Annas Überraschung drehte er sich wieder zu ihr und starrte sie an.
»Diese großartige Stadt«, fing er an, ohne auf seine Notizen Bezug zu nehmen, »hat ihre eigene Expertin auf dem Gebiet der Zuordnung hervorgebracht. Sie arbeitet derzeit in New York.
Vor einigen Jahren, als wir beide noch Studenten waren, führten wir über dieses Gemälde lange Diskussionen bis tief in die Nacht.« Der Raphael tauchte wieder auf der Leinwand auf.
»Nach den Vorlesungen trafen wir uns in unserer
Lieblingskneipe …« Wieder ruhte sein Blick auf Anna. »…
Koskies, wo viele von Ihnen sich auch heute noch treffen, wie ich aus zuverlässiger Quelle weiß. Wir trafen uns dort immer um 21 Uhr, nach der letzten Vorlesung.« Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Bild auf der Leinwand zu. »Dieses Porträt ist unter dem Namen Madonna Sixtina bekannt. Es wurde vor kurzem von der National Gallery in London erstanden. Raphael-Experten sind geteilter Ansicht, aber manch einer ist besorgt, wie viele Beispiele es vom selben Sujet gibt, die diesem Künstler zugesprochen werden. Einige Experten finden, dass dieses Gemälde der ›Schule von Raphael‹ oder
›nach Raphael‹ zuzuordnen ist.«
Anton sah wieder ins Publikum und stellte fest, dass der Platz am Ende der zweiten Reihe nicht mehr besetzt war.
Anna kam wenige Minuten vor der vereinbarten Zeit im Koskies an. Nur ein sehr aufmerksamer Student würde bemerkt haben, dass der Professor einige Augenblicke lang von seiner vorbereiteten Vorlesung abgewichen war, um sie wissen zu lassen, wo sie sich treffen sollten. Anna hatte die Angst in 276
Antons Augen nicht übersehen können, eine Angst, die nur jenen auffiel, die in einem Polizeistaat überleben mussten.
Anna sah sich in der Kneipe um. Ihr alter Studententreff hatte sich nicht sehr verändert. Dieselben Plastiktische, dieselben Plastikstühle und wahrscheinlich derselbe Plastikwein, der sich nicht exportieren ließ. Kein auf der Hand liegender Treffpunkt für einen Professor für Perspektive und eine New Yorker Kunsthändlerin. Sie bestellte zwei Glas vom roten Hauswein.
Anna konnte sich noch erinnern, wie sie die Nächte im Koskies absolut cool gefunden hatte, wo sie mit ihren Freunden über die Vorzüge von Constantin Brancusi und U2, Tom Cruise und John Lennon diskutierte und auf dem Heimweg ein Pfefferminzbonbon lutschen musste, damit ihre Mutter nicht merkte, dass sie geraucht und getrunken hatte. Ihr Vater wusste immer Bescheid – er zwinkerte ihr zu und zeigte auf das jeweilige Zimmer, in dem sich ihre Mutter gerade befand.
Anna erinnerte sich, wann sie und Anton sich zum ersten Mal geliebt hatten. Es war so kalt gewesen, dass sie beide die Mäntel anbehielten und als es vorbei war, hatte Anna sich gefragt, ob sie sich damit jemals wieder abgeben wollte. Niemand schien Anton erklärt zu haben, dass eine Frau etwas länger brauchte, um zum Orgasmus zu kommen.
Anna sah auf. Ein hoch gewachsener Mann kam auf sie zu.
Einen Augenblick lang war sie sich nicht sicher, ob es sich wirklich um Anton handelte. Der Mann trug einen
Armeemantel, der zu groß für ihn war, einen Wollschal um den Hals und eine Pelzmütze, deren Klappen seine Ohren bedeckten.
Ein ideales Outfit für einen New Yorker Winter, war ihr erster Gedanke.
Anton setzte sich ihr gegenüber und nahm die Mütze ab, sonst zog er jedoch nichts aus. Er wusste, dass sich der einzige funktionierende Heizkörper auf der anderen Seite des Raumes befand.
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»Hast du das Bild?«, fragte Anna, die es keine Sekunde länger aushielt.
»Ja«, bestätigte Anton. »Die Leinwand hat mein Atelier während deiner Abwesenheit nicht verlassen, was selbst die unachtsamsten meiner Studenten bemerkt haben, da das für mich total untypisch ist«, fügte er hinzu, bevor er an seinem Rotwein nippte. »Ich muss zugeben, dass ich froh bin, diesen verdammten Typ
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