Die Farbe Der Leere
dieser Freiheit aufzuzeigen. Sie war beileibe nicht glücklich darüber. Alles, was sie zu Brian sagte, zog sie noch tiefer in den Treibsand seines Lebens. Das kam eben davon, wenn man sich reinhängte, wo man gar nichts zu suchen hatte.
»Du weißt doch, wenn deine Mutter nicht dafür sorgt, dass du zur Schule gehst, kriegt sie Ärger. Was fällt dir überhaupt ein, nicht zur Schule zu gehen?« Sie klang wie eine präzise Kopie ihrer Mutter, und das machte ihr Angst.
»Das ist die einzige Zeit, in der ich mit Rob zusammen sein kann.« Der Trotz in seiner Stimme schabte an ihren Nerven. Wenn sie sich solche Halbwüchsigentexte anhören wollte, hätte sie auch gleich Barry glücklich machen können, indem sie selbst ein Kind bekam.
»Also schön, du willst mit Rob zusammen sein. Aber du musst dir überlegen, wie du das hinkriegst, ohne die Schule zu schwänzen. Denn das bringt dich nur noch mehr in Schwierigkeiten.«
»Was glauben Sie denn? Meinen Sie vielleicht, die lassen zu, dass er mich zu einem Rendezvous abholt?«
»Kannst du ihn nicht in … was weiß ich … in einem Coffeeshop treffen?« Sie hörte selbst, wie lächerlich ihre Worte klangen.
»Sie verstehen das nicht. Ich muss zu ihm. Die wissen doch rein gar nichts von Liebe«, fügte er bitter hinzu.
Sie hatte vergessen, dass alle Teenager glaubten, erstmals in der Geschichte der Menschheit die wahre Liebe erfunden zu haben. »Brian, du musst dich beruhigen und das Ganze gründlich durchdenken.« Hat sich je ein Teenager beruhigt, nur weil ein Erwachsener es ihm gesagt hat? »Nur noch ein paar Jahre, dann bestimmst du über dich selbst, gehst irgendwo aufs College und kannst machen, was du willst. Aber in der Zwischenzeit – wenn du bis dahin nicht vorsichtig bist, kannst du gewaltigen Ärger bekommen. Deine Eltern könnten dich sogar zum Familienrichter schleifen. Du musst das alles langfristig betrachten.«
Brian trat einen Schritt zurück. Er sah wirklich viel älter und selbstbewusster aus als nur einen Abend zuvor. »Warum? Warum darf ich nicht geliebt werden? Warum soll jeder Liebe haben können, nur ich nicht?« Er drehte sich um und rannte weg.
Sie rief ihm nach, aber er blieb nicht stehen. Glaubst du, du bist der Einzige mit diesem Problem? hätte sie ihm am liebsten hinterhergeschrien. Sie versuchte nicht, ihn einzuholen.
Sie hätte ihm auch noch gern gesagt, dass seinen Eltern, so verblendet sie auch sein mochten, durchaus an ihm lag. Ihnen lag genug an ihm, um ihm ein Zuhause zu geben, ihn auf eine Privatschule zu schicken und ihn religiös zu erziehen.
Schluss jetzt. Brians Eltern mussten das irgendwie hinkriegen.
Joe, der Pförtner, sah verlegen aus, als er sich ihr in den Weg stellte, sobald sie die Lobby betreten hatte. »Ich lasse Mr. Worth wissen, dass Sie da sind.«
Ihr war gar nicht in den Sinn gekommen, dass sie in dem Haus, wo sie fast zehn Jahre gewohnt hatte, vom Pförtner angekündigt werden musste.
»Bitte.« Sie stand neben dem kleinen Mann, während er oben bei Barry anrief. Joe hatte diesen Posten schon gehabt, als sie und Barry einzogen. Sie war ihm zehn Jahre lang fünf Tage pro Woche täglich mehrmals begegnet. Und wusste fast nichts über ihn. Sie wusste nicht, wo er wohnte. Ob er Frau und Kinder hatte.
»Ihre … Ms. McDonald ist hier«, sagte er in die Sprechanlage. Dann: »Er sagt, Sie können raufkommen, Ms. McDonald.«
»In Ordnung. Ich kenne den Weg.« Sie konnte nicht sagen, ob Joe die Ironie zu würdigen wusste.
Als sie auf den Fahrstuhl wartete, glitt die Tür auf und entließ eine Frau mit rasiertem Kopf und einen Mann mit allerlei Piercings in Nase und Augenbrauen. Das Pärchen hatte hier schon gewohnt, als sie und Barry einzogen, auch wenn die Frau damals noch viele lange, schöne Zöpfe gehabt hatte. Beide gingen ohne das geringste Zeichen des Erkennens an ihr vorbei. Sie konnte sich nicht erinnern, ob sie je ihre Namen gehört hatte.
Barry öffnete die Tür, bevor sie sie erreichte. Er hatte seinen Anzug gegen Jeans und einen hellblauen Sweater getauscht, fast im Ton seiner Augen. Er trug auch neue Slipper. Früher war er nach Feierabend immer im Jogginganzug rumgelaufen, und sie fragte sich: Erwartete er noch jemanden, oder hatte er in ihrem ehemaligen Schlafzimmer vor dem Spiegel gestanden und entschieden, dass dies die angemessene Garderobe war, um danebenzustehen, wenn seine künftige Exfrau die Scheidungspapiere unterschrieb?
Seine Begrüßung war noch freundlicher, als sie erwartet
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