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Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition)

Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madison Smartt Bell
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Bewegung, sondern ich hörte auch Geräusche; der Pick-up quietschte nicht bloß auf seinen altertümlichen Stoßdämpfern, sondern wimmerte wie ein lebendes Wesen ... Es verging eine lange, zähe Weile, bis ich den Gedanken zustande brachte, dass Terrell offenbar eine Isomatte auf die Ladefläche gelegt hatte. Und Mary Alice auf die Matte ...
    Ich rannte zurück in den Wald, das Bajonett fest in beiden Händen vor mir ausgestreckt, als wollte ich eine feindliche Schlachtreihe attackieren. Mein Mund war weit geöffnet, aber ich glaube nicht, dass ich schrie – dunkle Luft strömte in mich hinein, nicht heraus. Ich stolperte in die Rinne, wurde nass bis hinauf zu den nackten Schienbeinen; unter dem trockenen Laub war dreißig Zentimeter hoch Wasser und fauliger Schlamm. Dann wurde ich langsamer, plötzlich war ich mir der Gefahr bewusst, dass ich mich aufspießen könnte, falls ich strauchelte und mit dem hinstürzte, was ich da trug.
    Der Jäger hatte das tote Jungtier liegen gelassen, zu klein, um legale Beute zu sein, oder vielleicht war er auch ein zu schlechter Spurenleser, um es zu finden. Es war so jung, dass es noch immer seine Flecken hatte. Heute kommt mir das abwegig vor – es war zu spät im Jahr –, aber damals nahm ich es so wahr.
    Ein roter Schleier schwamm über mein Gesichtsfeld, warf Tentakel aus wie ein Krake.
    Und das Nächste, was ich sah, was ich meiner Erinnerung nach sah, war Mary Alice, die hochfuhr, sich die Brüste mit pummeligen weißen Händen bedeckte, den Mund aufgeklappt, keuchend, die Augen weit aufgerissen. Terrell flog von ihr runter und stieß sich den Kopf an der Seitenwand der Ladefläche. Das alte Metall schallte wie eine dumpfe Schulglocke.
    Ich stand vor den beiden, barfuß und blutbedeckt, nackt bis auf das frische Hirschkalbfell, mein Thyrsosstab von Giftsumach umwunden oder von wimmelnden Schlangen, ich weiß es nicht. Meine Schuhe waren verschwunden, meine Kleidung fand ich nie wieder, auch nicht die kleine Pfeife, aber irgendwie hatte ich das Bajonett behalten, denn ich fand es später zwischen Terrells Sachen.
    Sofort begann Mary Alice zu schreien, im gleichmäßigen Rhythmus eines Uhrwerks. Sie schrie, wie ein kleiner Hund japst, der nicht weiß, warum er bellt, vielleicht nicht mal weiß,
dass
er bellt.
    Was machte Terrell? Ich erinnere mich nicht. Ich habe kein Bild vor meinem geistigen Auge.
    Dann wieder der rote Schleier. Mein Gesichtsfeld flimmert. An den klaren Stellen sind gewisse Bilder. Blutige Abdrücke von nackten Füßen auf dem welligen Linoleum des Küchenbodens ... aus dem Wohnzimmer das Knistern des Fernsehers, eine üble Geruchsmischung von Zigarettenqualm und Sanka-Kaffee, das Gekeife von Dad und dem Mom-Ding oder vielleicht auch nur vom Mom-Ding allein ... Ich stelle mir vor, wie sie mir das Hirschkalbfell vor die Nase hält, wie sie kreischt oder nur so aussieht, als würde sie kreischen. Ihr schwarzes Maul rund und stumm wie das eines Neunauges.
    Aber das muss Tage oder gar Wochen später gewesen sein, als sie das schrumpelige Fell unter dem Bett oder in einer Schrankecke fand, weil es angefangen hatte zu stinken. Falls das alles überhaupt geschehen ist, denn irgendwie weiß ich nicht mehr, ob ich diese Dinge nicht nur geträumt habe.

50
    Mit unseren Messern zogen wir eine einfache klare Grenze.
    Sie bluten und sterben.
    Wir nicht.

51
    Ich holte mein altes Exemplar von
Western Wind
hervor und schlug die Innenseite mit den Bildern auf. Es war traurig, wie jung alle wirkten. Immerhin hatten wir es geschafft, O.s Jugend für die Ewigkeit zu bewahren. Dank unserer Hingabe würde alle Welt ihn stets in der Hochblüte seiner Jahre sehen.
    Die Songs handelten alle von Eerie, das wusste ich, aber sie konnte nicht dabei gewesen sein, als die Fotos aufgenommen wurden. O. hatte sie von Teds Zimmer direkt in eine Suchtklinik gebracht – obwohl man das damals nicht so nannte. Solche Einrichtungen gab es bestimmt, aber sie waren so diskret, dass es keinen Namen für sie gab, abgeschieden in Gärten voller Orangensaft und Sonnenschein. Und mit Gummizellen, denn ich meine, mich zu erinnern, dass Eerie einen kalten Entzug machen musste, dass sie den Kopf gegen die Wände und auf den Boden schlug ...
    Ich lehnte mich zurück, drückte mit den Fingern auf meine geschlossenen Augenlider – ja, um diese Zeit hatte Laurel einen etwa einwöchigen Abstecher gemacht –
Abstecher
, so nannte sie das gern. Laurel bekam noch immer Geld von zu Hause, und anders als

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