Die Farbe der See (German Edition)
einfach mit den Plänen im Gepäck nach Smögen hineinzumarschieren, behagte Ole nicht.
Nun, er würde eben umso wachsamer sein müssen.
Nach einer kurzen Strecke hatten sie die Landstraße erreicht und wandten sich auf ihr in südwestliche Richtung.
Es herrschte leidlich viel Verkehr auf der Straße, und es wäre vielleicht möglich gewesen, die Strecke per Anhalter zurückzulegen oder mit einem Bus von der nahe gelegenen Ortschaft Hovenäset aus. Aber sie waren sich einig, dass dadurch ihr Risiko, erkannt zu werden, zu groß wurde. Gut möglich, dass die Polizei inzwischen Personenbeschreibungen von ihnen veröffentlicht hatte. Also nahmen sie notgedrungen den langen Fußmarsch in Kauf.
Gute eineinhalb Stunden später erreichten sie eine Anhöhe, von der aus sie einen beeindruckenden Ausblick auf den Hasselösund hatten und die beiden durch ihn getrennten Orte Smögen und Kungshamn.
Beide Hafenstädtchen lebten vom Fischfang, wie von oben unschwer an ihren ausgedehnten Hafenanlagen, den zahlreichen Fischkuttern und Lagerhallen sowie einer Anzahl Fisch verarbeitender Fabriken zu erkennen war. Aber während Kungshamn diesseits des Sundes wenig Charme zu haben schien, war Smögen auf der gegenüberliegenden Insel Hasselön trotz des Fischereigewerbes eine weitere prächtige Blume im westlichen Schärengarten.
Seine bunten, properen Häuser drängten sich dicht unter einem hohen Hügelrücken zusammen, und ihre Farben wetteiferten in der warmen Abendsonne mit denen der Rümpfe und Aufbauten der Schiffe im Hafen. Dieser wurde durch einen schmalen, etwa 500 Meter langen Einschnitt zwischen den hellen Granitfelsen gebildet und beiderseits von teilweise auf Stelzen über das Wasser hinausgebauten Speichern und Warenhäusern flankiert. Vornean standen die größten und prächtigsten Gebäude, weiter hinten in dem schmalen Schlauch wurden sie immer kleiner, jedoch auch immer farbenfroher. Aufgefädelt war diese bunte Perlenschnur an einer einzigen langen Holzpier, der Smögenbryggan, die sich, mal breit wie ein kleiner Platz, mal schmal wie ein wackeliger Steg, einmal rund um das ganze Hafenbecken herumzog.
Auf dieser Pier schien sich das gesamte öffentliche Leben abzuspielen. Das war der erste Eindruck, den Ole hatte, als Lina und er die kleine Fähre verließen, die sie von Kungshamn über den Sund gebracht hatte. Fischer luden hier ihren Fang von den Booten, Schauerleute trugen ihn in die Kühlhäuser und Fischauktionshallen. Händler und Handwerker boten Waren feil, und eine Anzahl an Kneipen und Gastwirtschaften lockte mit Speisen und Getränken.
Nicht gerade der stille, verschwiegene Ort, den Ole für ein geheimes Treffen erwartet hätte.
Lina hatte dazu eine eigene Sicht: »Gut, dass es so voll ist. Da können wir besser untertauchen, wenn es nötig wird.«
Als sie an einer der zahlreichen offenen Fischküchen vorbeikamen, stieg Ole ein wohlbekannter, verführerischer Duft in die Nase. Er blieb stehen und entdeckte einen großen Topf, in dem Jomfruen gegart wurden, jene köstlichen Garnelen, von denen er sich auf Anholt vergeblich ein paar erhofft hatte.
»Smögenräkor! Eine echte Delikatesse. Die Region ist berühmt dafür!«, erklärte Lina und fragte, ob Ole vielleicht ein paar davon zu Abend essen wollte.
»Können wir uns die denn leisten?«, fragte er unsicher zurück. Zu Hause waren sie sündhaft teuer.
»Das sollte gerade noch klappen!«, lachte Lina und tätschelte auf die Tasche, in der sie ihre Geldbörse trug.
Nebeneinander zwängten sie sich an einen schmalen Tisch mit Blick auf den Hafen, und kurz darauf tischte ihnen eine wohlbeleibte Kellnerin einen wahren Berg Räkör auf.
Lina, die nicht wusste, dass Krabbenpulen eine der täglichen Pflichten in Oles Kindheit gewesen war, wollte ihm großzügig erklären, wie man die Schalen zu öffnen hatte. Doch bevor sie ihren ersten Satz zu Ende gebracht hatte, war bereits der erste Garnelenschwanz in Oles Mund verschwunden, und er wendete sich den länglichen Scheren zu.
»Da ist das beste Fleisch drin«, sagte er kauend.
»Ja, ich weiß«, antwortete Lina leicht irritiert. »Aber das bekommt man doch so gut wie nie heil heraus.«
»Ach was! Du musst nur so machen!«
Ole nahm den dünnen, beweglichen Teil der Schere zwischen Daumen und Zeigefinger und drehte ihn mit geübter Bewegung ein kleines Stück um die eigene Achse, nur eben so weit, bis es leise knackte. Dann zog er ein unversehrtes Stückchen rosafarbenes Fleisch aus der Zange des
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