Die Farbe der See (German Edition)
fielen plötzlich Schüsse, und das Geräusch war zehnmal schlimmer als die Schmerzen in seinem Arm. Lina! O Herr, bitte nicht Lina!
Doch dann hörte er sie auf Schwedisch schimpfen und fluchen, und erleichtert ging ihm auf, dass es mit Sicherheit anders hätte klingen müssen, wenn sie getroffen worden wäre.
Eine tiefe Stimme rief ein paar für Ole unverständliche Befehle, und kurz konnte er den Hintergrund des hellen Abendhimmels sehen, als die Tür sich öffnete.
»Ole!«, schrie Lina. »Du musst die dritte To…«
Sie verstummte, als ihr eine Hand oder ein Lappen auf den Mund gepresst wurde. Dann sah Ole, wie zwei schwarze Schatten sie aus dem Schuppen zerrten. Die Tür schlug wieder zu und einen kurzen Moment lang war alles dunkel.
Dann wurde die Verdunklung von der Öllampe genommen.
Ole hatte erwartet, schwedische Polizeiuniformen zu sehen, vielleicht sogar Richard Korfmann, der jetzt grinsend vor ihn treten und ihn für seine Dummheit verhöhnen würde.
Aber der Hinterhalt, in den man sie gelockt hatte, war von anderen gelegt worden. Von Zivilisten – zwei Männern mit stoppelbärtigen, grimmigen Gesichtern, die Ole vage bekannt vorkamen. Nach einem Moment ging ihm auf, dass er sie vorhin im Valfångare gesehen hatte. Ein dritter kniete schwer auf seinem Rücken und hielt seinen Arm so verdreht, dass er kaum das Gesicht von den Holzplanken heben konnte.
Eigentlich hätte Ole erleichtert sein müssen, dass es nicht sein Erzfeind Korfmann war, der ihnen aufgelauert hatte. Aber das Gefühl, in tödlicher Gefahr zu schweben, wollte einfach nicht weichen.
»Vad kan vi göre nu med honom?«, fragte der Mann in seinem Rücken. Was machen wir mit ihm?
»Ni har hört vad Carl sade. Han är en tysk spion«, antwortete ein anderer. »Styckning sin strupe och kasta i havet!«
Sie hielten ihn für einen deutschen Spion. Das hatte Ole verstanden, und dann noch etwas anderes: Styckning sin strupe! Schneid ihm die Kehle durch!
Sein Gefühl von Ohnmacht und Panik verdoppelte sich.
»Halt, wartet!«, schrie Ole. »Wir sind auf eurer Seite. Wir haben die Pläne!«
O Gott, verstanden sie ihn überhaupt? Wenn sie nur Lina nicht fortgeschafft hätten. Sie würde das erklären können!
Seine Gedanken begannen durcheinanderzustürzen. Lina. Was hatte sie gesagt? Das dritte Irgendwas … Was hatte sie gemeint?
Unsanft griff der Mann hinter ihm in sein Haar und riss seinen Kopf ins Genick.
Entblößte seinen Hals.
Dann hörte Ole neben sich das unerbittliche, hell metallische Geräusch einer langen Klinge, die aus einer Scheide gezogen wurde.
Das Gefühl unumstößlicher Gewissheit erfasste ihn. Gleich würde es vorbei sein. Ein einziger Schnitt nur.
Unzusammenhängende Bilder begannen an ihm vorbeizurasen. Er begriff, dass es sein eigenes Leben war, das er entschwinden sah. Das Zuhause auf Amrum, Meister Rausch in der Segelmacherei, Kiel, der Yachtclub, die Skagerrak mit von Wellersdorff am Ruder. Und dann Lina, die Morgensonne in ihrem Haar und ihre grün blitzenden Augen.
Nur ein winzig kleiner Teil seines Gehirns weigerte sich trotzig, aufzugeben, die Arbeit einzustellen. Was, verdammt, hatte sie damit gemeint? Die dritte …?
… Losung! Es gab eine dritte Losung, das hatte sie gesagt, als sie das Boot verlassen hatten. Für den Notfall, eine Art Generalschlüssel der Widerstandsbewegung! O Gott, das war es, was sie ihm noch hatte zurufen wollen! Was, um Himmels willen, konnte das dritte Losungswort sein?
Jetzt konnte er das Messer sehen, direkt vor seinen Augen. Die dünne, schartige Klinge stank noch nach Fisch.
Die ersten beiden Parolen hatten mit den Enkeln des norwegischen Königs zu tun gehabt: Harald und Astrid! Wie hieß das dritte Enkelkind?
Das Messer berührte kalt seine Kehle. Ole schloss die Augen und presste die Zähne zusammen, in Erwartung des kurzen, finalen Schmerzes. Ein letzter Gedankenblitz, dann würde es vorbei sein.
Ole war Segler. Sein letzter Gedanke galt einer Segelyacht.
»Ragnhild!«, stieß er plötzlich hervor.
Die 6-Meter-R-Yacht, mit der Olav von Norwegen die Olympischen Spiele gewonnen hatte. Er hatte sie nach seiner dritten Tochter benannt!
»Prinzessin Ragnhild!«, stammelte er noch einmal.
Die Hand, die das Messer zur Seite geführt hatte, um einen möglichst langen Schnitt zu setzen, hielt in ihrer Bewegung inne.
Unsäglich quälende Sekunden verstrichen.
Dann sagte eine Stimme: »Låt honom gå!«
»Als wir erfahren hatten, dass Frederik Sønstebye und die
Weitere Kostenlose Bücher