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Die Farbe der See (German Edition)

Die Farbe der See (German Edition)

Titel: Die Farbe der See (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan von der Bank
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der verhassten Kisten gestapelt war und Ole sich erschöpft und erleichtert aus seinem stickigen Verlies ans Tageslicht zurückarbeitete, gönnte ihnen der Obermaat großzügig ein paar Minuten Pause. Rasch verdrückte sich Ole auf das Achterdeck, wo er sich an die Reling lehnte und erst einmal tief Luft holte. Überrascht stellte er fest, dass der Regen aufgehört hatte. Mehr noch, zum ersten Mal seit über einer Woche stahlen sich ein paar verirrte Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke und ließen das Wasser glitzern.
    Plötzlich erstarrte Ole. Hatte er eine Vision? Oder war es die Folge von Anstrengung und Sauerstoffmangel unter Deck, die ihm ein Trugbild vorgaukelte?
    Direkt vor ihm leuchteten strahlend weiß die Segel einer großen, rassigen Segelyacht. Langsam und majestätisch wie ein Schwan zwischen hässlichen schwarzen Aaskrähen zog sie an den Kriegsschiffen vorbei, genau in jenen einzelnen Flecken Sonnenlicht hinein, der ihre Takelage und jeden einzelnen Plankengang ihres weißen Rumpfes in magischem Gold aufleuchten ließ.
    Einzig die Tatsache, dass auch seine Kameraden neben ihm das Schauspiel mit offenem Mund und blanken Augen verfolgten, ließ Ole nicht vollends an seinem Verstand zweifeln.
    Groß- und Fliegersegel gingen herunter, und nur unter Fock und Besan fuhr der als Bermuda-Yawl getakelte Zweimaster einen eleganten Aufschießer, bis er längsseits an der Pier zum Stehen kam. Ein Anleger ohne Motoreinsatz war ein beachtliches Manöver für ein Schiff von gut und gerne 70 Tonnen Gewicht. Wer immer dort das Ruder führte, verstand etwas von seinem Handwerk.
    »Ist ja ein dolles Ding!«, sagte einer von Oles Kameraden voller Bewunderung. »Woher die wohl kommt?«
    »Aus Mürwik«, antwortete Ole, ohne die Augen von der Yacht abzuwenden.
    Er hatte sie sofort erkannt.
    »Das ist die Skagerrak .«
    Sie gehörte der Marineschule in Flensburg. Im letzten Juni war sie auf ihrer Jungfernfahrt von der Weser, wo sie bei Abeking & Rasmussen gebaut worden war, durch den Kanal gekommen und hatte vor dem Kaiserlichen Yachtclub Station gemacht. Von Takelung, Rumpfform und Segelverhalten her war sie das Modernste und Schnellste, was die Yachtkonstrukteure bis dato hervorgebracht hatten, und es hieß, Erich Raeder, Großadmiral und Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, habe sie beim alten Henry Rasmussen in Auftrag gegeben, um höchstselbst mit ihr nach Amerika zu segeln und dort zum Ruhme der deutsche Marine den legendären 100-Guinee-Cup zu gewinnen. Nun, das war vor dem Krieg gewesen, und die Ansichten des Herrn Raeder, wie die Marine zu Ruhm und Ehre gelangen sollte, hatten sich grundlegend gewandelt. Inzwischen wurde die Skagerrak, wie alle anderen größeren Yachten der Marine, ausschließlich für die nautische Ausbildung von jungen Offizieren eingesetzt. Nachschub an Menschenmaterial, nach dem die unersättliche Kriegsmaschinerie ständig verlangte.
    »Mürwik?«, fragte Oles Kamerad. »Von der Kadettenschule?«
    »Genau die«, knurrte der Obermaat, der sich inzwischen zu ihnen gesellt hatte. »Und während sich unsereins beim Feindeinsatz im Nordmeer die Eier wegschießen lassen darf, machen die künftigen Herren Offiziere erst mal ein, zwei Wochen Segelurlaub auf der heimeligen Ostsee!«
    Er zog geräuschvoll die Nase hoch und spuckte das unerfreuliche Ergebnis abfällig in Richtung der Yacht.
    »Na ja, die erwischt’s auch noch früher oder später! Los jetzt! Zurück an die Arbeit, ihr verdammten Faulpelze! Reise Reise!«
    Dienstausscheiden war um sechs, und trotz reichlich Arbeit verging die Zeit bis dahin quälend langsam. Sobald die Musterung vorüber war, hatte es jeder eilig, an Land zu kommen. Die einen wollten den letzten Abend vor dem Auslaufen im Schoße ihrer Familien verbringen, die anderen hatten weit unkeuschere Schöße im Sinn, die drüben auf der sündigen Meile Kiels auf sie warteten. In den Quartieren rasierten und parfümierten und putzten sich beiderlei Landgänger heraus, was das Zeug hielt. Auch Ole verspürte den unbestimmten und ihm selbst etwas rätselhaften Impuls, ein frisches Hemd anzuziehen. Rätselhaft deswegen, weil er doch lediglich ein paar Meter auf der Pier zu gehen und sich die Skagerrak aus der Nähe anzusehen gedachte. Aber das Gedränge vor den Kleiderspinden und Rasierspiegeln war so groß, dass Ole dann doch verschwitzt und zerknittert, wie er war, hinunter auf die Pier ging.
    Die stattliche, 27 Meter lange und 5,5 Meter breite Segelyacht wirkte mit ihrem weit

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