Die Farbe der See (German Edition)
Angst.
Es bestand kein Zweifel, was man auf der Brücke des Schnellbootes mit dem Warnschuss hatte bezwecken wollen. Die Yacht sollte zum Abdrehen und zur Rückkehr in den Hafen gezwungen werden!
Ole sah sich nach dem Konteradmiral um. Sein Gesicht war unbewegt und hart wie Stein, der Mund nur noch ein schmaler Strich. Ole kannte diesen Ausdruck. Er hatte ihn während der Starboot-Regatta gesehen, als sie die »Parade« abgenommen hatten. Der Konteradmiral hatte seinen Fluchtversuch gegen den weit überlegenen, vielfach schnelleren Gegner noch lange nicht aufgegeben!
Ole folgte seinem Blick. Er war nach Lee gerichtet. Zum Riff. Auch von Wellersdorff hatte das Einlaufen des Kutters am Nachmittag beobachtet. Also hatte auch er gesehen, dass es dort eine Passage gab. Eine geheime Hintertür aus der Falle, in die das Schnellboot sie zu treiben versuchte.
Ihr Gegner war ihnen inzwischen erheblich näher gekommen. In wenigen Minuten würde das Schnellboot sie überholt haben und ihnen den Weg um die äußere Spitze des Anholt-Riffes herum versperren. Sich ihnen mit schussbereiten Geschützen in den Weg legen. Oder die beiden Torpedoklappen im Bug in ihre Richtung drehen.
»Wo ist die verdammte Querung?«, hörte Ole den Konteradmiral fluchen.
Auch Heribert Rausch schien zu wissen, um was es ging, und diesbezüglich die gleichen Bedenken zu haben wie Ole.
»Das ist Wahnsinn, Paul!«, schrie er gegen den Wind, und Ole hörte irritiert, dass er den Konteradmiral zum ersten Mal beim Vornamen nannte. »Die Durchfahrt ist schon bei gutem Wetter kaum zu finden! Vor allem die Barre in der Mitte. Die ist bei dieser Sicht nicht auszumachen!«
»Von dir und mir vielleicht nicht. Aber von ihm!«
Ole sah, wie der Konteradmiral seine kühlen grauen Augen auf ihn richtete, und sein Herz setzte einen Schlag aus.
Wenn du mir das Manöver versaust, schmeiß ich dich über Bord! Von Wellersdorffs Worte hallten in Oles Erinnerung nach.
Neuerliches Geschützfeuer, jetzt bereits erheblich lauter, bekräftigte die Absicht ihres Verfolgers, sie zum Abdrehen zu zwingen. Und diesmal gingen die Geschoßgarben nur zwei Schiffslängen voraus ins Wasser, so dass Ole vermeinte, die Gischt der Fontänen im Gesicht zu spüren.
Wenige Augenblicke später klammerte sich Ole Storm im spitzen Bug der Skagerrak ans Vorstag und starrte konzentriert auf die Farben des Meeresbodens voraus. Mit voller Fahrt jagte die Yacht an der Riffkante entlang, und schon nach den ersten paar Wellen war Ole von der hoch aufspritzenden Gischt bis auf die Haut durchnässt. Hinter ihm stand Heribert Rausch, eine seiner Pranken fest auf Oles Schulter gelegt und seine Stimme rau vor Anspannung.
»Das ganze Riff ist steinig, bis auf die Durchfahrt. Die hat sandigen Grund. Du musst nach Sand Ausschau halten, Ole!«
Trotz des zusehends schwindenden Lichtes konnte Ole tatsächlich bereits das Wechselspiel von Kraut und dunklen Steinfeldern am Meeresgrund erkennen, untrügliches Zeichen dafür, dass es verdammt flach wurde. Aber nirgendwo die leiseste Spur von Sand.
»Drei Faden!«, schrie Karl, den der Konteradmiral ans Leewant beordert hatte, um mit der Lotleine die Wassertiefe nachzuhalten.
Ein Faden entsprach dem Stück einer Lotleine, das ein Mann zwischen seinen ausgebreiteten Armen von rechts nach links spannen konnte, also etwa einem Meter achtzig. Drei Faden waren mithin weniger als fünfeinhalb Meter Wassertiefe. Die Skagerrak hatte einen Tiefgang von dreieinhalb Metern. Oder zwei Faden.
»Unter drei Faden jetzt!«
Karls Stimme bekam einen schrillen Ton.
Das Schnellboot hatte sie inzwischen überholt und begann nach steuerbord zu drehen. Wie Ole es erwartet hatte, wollte es sich ihnen in den Weg legen.
Zu allem Überfluss ging in diesem Moment eine heftige Regenbö über sie hinweg. Ole merkte es weniger am stärkeren Prasseln des Regens und dem unheimlichen, hohen Singen des Windes in der Takelage als daran, dass plötzlich so gut wie alle Farben aus dem Wasser verschwanden.
Die Skagerrak legte sich einen Moment lang bedrohlich auf die Seite und luvte an. Doch dann richtete sie sich wieder auf und für einen Augenblick kehrte durch eine Lücke in der Bewölkung ein Rest des rötlichen Abendlichtes zurück. Aus dem Augenwinkel konnte Ole an Steuerbord etwa fünfzig Meter querab eine breite, hellere Stelle im Wasser erkennen, in deren grauer, wellenrauer Oberfläche eine Ahnung von wärmerem Gelb mitschimmerte. Sand!
»Da ist es!«, rief Ole.
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