Die Farbe der See (German Edition)
»Da!«
»Backbord querab! Auf vier Uhr!«, donnerte Rausch nach achtern und gestikulierte wild mit ausgestrecktem Arm in die Richtung, die Ole angezeigt hatte. »Wir sind schon fast dran vorbei!«
Von Wellersdorff warf sofort das Ruder herum, und mit einem gewaltigen Ruck, der Ole und Rausch beinahe über Bord gefegt hätte, drehte der Bug sich zum Riff. Ole hörte den Konteradmiral achtern mehrere kaum verständliche Kommandos schreien, und mit lautem Ächzen der Schoten wurden die Segel gefiert. Die Yacht richtete sich auf und pflügte nun mit schäumendem Bug direkt auf das Anholt-Riff zu. Oder besser gesagt: auf die schmale Lücke darin, die einzig und allein Ole zu sehen vermochte.
Was war, wenn er sich geirrt hatte? Was, wenn es bloß ein größerer Sandfleck am Meeresgrund gewesen war, der die Skagerrak nirgendwo anders hinführte als in den unvermeidlichen Schiffbruch?
Ole verdrängte den angsteinflößenden Gedanken und kniff die Augen zusammen. Nein. Voraus am Meeresgrund lag die schmale, helle Spur des Sandes wie ein geheimer Pfad vor ihm ausgebreitet. Auch die Zeichnung der Wellen im Fahrwasser wurde flacher und half ihm, die Richtung zu bestimmen.
Kurz drehte Ole den Kopf nach achtern und sah, wie sich das Schnellboot, das sich nun wieder deutlich achteraus befand, mit schäumender Bugwelle an die Verfolgung machte. Wo es tief genug war für eine Segelyacht, so war vermutlich das Kalkül seines Kommandanten, konnte ein Schnellboot mit der Hälfte des Tiefganges allemal bestehen. Im Zweifelsfall würden sie einfach aufstoppen und zusehen, wie die Skagerrak zweihundert Meter voraus auf das Riff ging und in tausend Stücke zermahlen wurde.
»Die Barre! Denk an die Barre in der Mitte!«, hörte Ole den warnenden Ruf des Segelmachers an seinem Ohr.
Ole riss sich zusammen und blickte wieder nach vorn. Rechts und links ihres Kurses donnerten steile Grundseen auf die steinigen Wälle des Riffs, während dort, wo die Passage lag, das Wasser etwas flacher war. Doch dann kam die Barre.
Und mit ihr der bei Weitem gefährlichste Teil der Passage.
Hier war die See nur noch ein einziges Chaos aus schmutzigweißer Gischt und sich brechenden Wellen. Ole hörte, wie Rausch hinter ihm einen halb erstickten Fluch ausstieß, und der Griff, mit dem der Segelmacher sich an Oles Schulter festklammerte, wurde schmerzhaft.
Ole wusste, dass das Fahrwasser um die Barre herum etwa fünfundvierzig Grad nach rechts abknickte, um gleich darauf wieder scharf in die Gegenrichtung zu führen. Aber an welcher Stelle, um Himmels willen?
Krampfhaft hielt Ole Ausschau, konnte aber in der wütenden See nichts erkennen. Wenn sie zu früh den Kurs änderten, würden sie die Seitenwand des Kanals treffen, quer schlagen und auf Grund gehen. Warteten sie zu lange, rasten sie mit voller Geschwindigkeit auf die tödliche Barre. Und an ein Zurück – oder auch nur ein Abbremsen ihrer aberwitzigen Geschwindigkeit – war bei diesem Wind und der Enge der Passage ebenfalls längst nicht mehr zu denken.
Rausch hatte vollkommen recht gehabt: Bei diesen Bedingungen war es unmöglich, den Weg durch diese Hölle zu finden! In wenigen Augenblicken würde der Kiel den Grund berühren und die Yacht auf dem Riff auseinanderbrechen. Was konnte er noch tun? Nichts.
Folge den Strudeln!
Die Stimme seines Vaters.
Wenn du nicht weiterweißt, folge den Strudeln!
Ole schloss unwillkürlich die Augen, um das Bild in seiner Erinnerung besser sehen zu können.
Auflaufendes Wasser in einem schmutzigbraunen, aufgewühlten Priel hinter seiner Heimatinsel Amrum. Tobende Wellen an den Rändern und eine scheinbar unüberwindliche Bank aus Gischt voraus. Seinen Vater am Steuerrad ihres Kutters, der in stoischer Ruhe darauf zuhielt, bis er genau im rechten Moment hart das Ruder legte. Und er selber, Ole, damals kaum zehn Jahre alt, der mit ebenso absoluter Sicherheit wusste, warum sie es schaffen würden: Bevor die Wucht des Wassers die flache Barre traf, bildeten sich kleine, rasch drehende Verwirbelungen an der Oberfläche. Genau an der Stelle, wo das Wasser noch tief genug war. Nicht davor und nicht dahinter. In die Richtung, in die die Strudel davonliefen, lag stets die Öffnung zum rettenden, ruhigeren Seegatt.
Folge den Strudeln!
Ole riss die Augen auf.
In all dem Wellenchaos waren tatsächlich kleine Verwirbelungen zu erkennen, etwa zwanzig Meter voraus, die sich schräg nach rechts bewegten. Er zögerte keinen Moment.
»Jetzt! Steuerbord! Vierzig
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