Die Farbe der See (German Edition)
Grad!«, schrie er aus voller Lunge nach achtern.
Er hatte keine Ahnung, ob von Wellersdorff ihn im Tosen der Elemente verstanden hatte. Aber offensichtlich hatte er Rauschs Armbewegungen und die von ihm in die Höhe gereckten vier Finger richtig gedeutet. Denn wieder ruckte der Bug der Skagerrak scharf nach rechts.
Plötzlich gab es einen gewaltigen Knall. Aber nicht von unten, von wo Ole ihn erwartet hatte, sondern von oben, aus der Takelage.
»Patenthalse!«, schrie Rausch ihm ins Ohr.
Ole verstand. Die Segel hatten ungewollt und unkontrolliert die Seite gewechselt, als das Heck der Yacht plötzlich durch den Wind gedreht hatte. Zum Glück waren nur die Baumfock und der Besan oben, nicht das Großsegel. Sonst hätte der Ruck leicht den Mast brechen lassen können.
Rausch stieß Ole ungeduldig an, damit er wieder nach vorne blickte.
Folge den Strudeln!
Wie die Steinchen von Hänsel und Gretel im Wald lagen sie vor Ole in der kochenden See. Er musste sie nur einsammeln. Kleine, silberne Ariadnefäden in einem tödlichen Labyrinth, die um sich selber wirbelten und den wie irre kochenden Wellen zu trotzen schienen.
»Fünf Grad Steuerbord! Jetzt geradeaus!«, rief Ole, und Rausch zeigte die Richtung per Handzeichen nach achtern. Die Yacht gehorchte.
Dann plötzlich lag eine weitere Wand aus tosenden, sich brechenden Wellen voraus. Die hintere Kante des Bogens, der um die Barre herumführte. Ole hielt die Luft an. Wo waren seine Strudel? Da!
»Jetzt Backbord! Schnell! Vierzig, nein, fünfzig, sechzig Grad!«
Wieder gehorchte die Skagerrak, drehte nach links zurück, und wieder schlugen die Segel mit einem schmerzhaften Ruck zur anderen Seite. Der Wind griff ins Tuch und die Yacht legte sich schwer auf die Seite. Heribert Rausch verlor den Halt und wäre um ein Haar vom Bug gerutscht, wenn Ole ihn nicht festgehalten und zurück ans Vorstag gezogen hätte.
Aber wenn es noch eines letzten Quäntchens Glück für ihre waghalsige Flucht bedurft hatte, so war es diese plötzliche, unerwartet heftige Krängung der Yacht.
Denn in diesem Moment krachte und rumpelte es unter dem Kiel, und mit einem kurzen, scharfen Nicken des Buges schrammte die Skagerrak über die allerletzte Kante des Riffs hinweg. Hätte das Schiff aufrecht gestanden, durchzuckte es Ole, wäre der Kiel hängen geblieben. Und der Mast von oben gekommen. So sicher wie das Amen in der Kirche.
Dann öffnete sich die Passage. Die Yacht richtete sich wieder auf und stürmte ins tiefere Wasser hinaus.
Noch ein paar Augenblicke später und Oles silberne Strudel verloren sich, ebenso wie das beißende Weiß der Gischt über den Untiefen. Die Wellen um sie herum wurden wieder höher und länger, ihre Farbe dunkler.
»Fünf Faden!«, krächzte Karl am Lot mit heiserer Stimme. »Jetzt fünfeinhalb Faden Wasser!«
Ole atmete tief durch und drehte sich zu Rausch um, der ihm vor schierer Erleichterung so heftig auf die Schulter klopfte, dass Ole meinte, sein Schlüsselbein knacken zu hören.
Dann blickten sie gemeinsam zurück zu der Stelle, die sie gerade passiert hatten.
Im schwindenden Licht war das Weiß der wütenden Brandung zu sehen. Und dahinter die graue Silhouette des Schnellbootes. Es befand sich noch hinter der Barre. Ob es auf Grund gelaufen war oder sein Kommandant beschlossen hatte, dem selbstmörderischen Zickzack der Yacht nicht weiter zu folgen und sich durch langsame Rückwärtsfahrt aus der gefährlichen Passage zu befreien, war nicht zu sagen. Aber eines war eindeutig: Es bewegte sich nicht weiter in ihre Richtung.
Dann peitschte die nächste dunkle Regenbö über das Wasser und Ole verlor das Schnellboot außer Sicht.
*
Es wurde in der Tat eine ungemütliche Nacht. Wegen der beinahe absoluten Finsternis und dem unheimlichen, hohen Heulen des Windes in der Takelage. Wegen der rauen Wellen, die wie aus dem Nichts heraus vor dem Bug auftauchten, die Yacht schüttelten und beißende Gischtfontänen über das Deck jagten. Wegen der Seekrankheit, mit der nicht wenige der zukünftigen nautischen Offiziere zu kämpfen hatten. Vor allem aber, weil die Stimmung an Bord niedergedrückt und zutiefst verunsichert war.
Ole sah es in den Gesichtern seiner Kameraden. Sie alle wurden von den gleichen Fragen gequält, die auch er sich wieder und wieder stellte. Was hatte Strassers pathetischer Versuch, den Konteradmiral unter Arrest zu stellen, zu bedeuten? Und was die Warnschüsse des deutschen Schnellbootes? Und schließlich ihre
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