Die Farbe der See (German Edition)
heraus und lugte in den Regen und die Dämmerung hinaus. Unten auf dem wackeligen Holzsteg am Hafen, vielleicht dreißig, vierzig Meter entfernt, stand jemand in einem schwarzen Ölmantel. Lina.
Mit einer Laterne leuchtete sie in einen der Fischkutter hinein und rief seinen Namen.
»Hier oben!«, antwortete Ole und kletterte unter dem Boot hervor.
Einen Augenblick später stand sie vor ihm. Das Ölzeug war ihr viel zu groß. Sie musste es im Schuppen gefunden haben. Ihr Gesicht war nass und die Augen ein wenig rot, aber das konnte ebenso gut vom Regen kommen wie von ihrem Streit mit Sigur.
»Kein Wunder dass ich dich nicht gefunden habe!«, sagte sie und leuchtete mit der Laterne unter das Boot. »Ich hab die halbe Insel nach dir abgesucht!«
Ole hätte sich gerne geschmeichelt gefühlt, aber Linas Gesichtsausdruck war zu ernst, als dass er angenehme Schlüsse aus ihrer Äußerung ziehen konnte.
»Wir müssen reden«, sagte sie und kroch ohne weitere Umstände unter das Boot. Der warme Schein ihrer Öllampe ließ das Innere des Verstecks geradezu heimelig wirken.
»Wie sicher bist du dir mit dem alten Funkgerät?«, fragte sie, noch bevor Ole sich ganz ins Innere gezwängt hatte.
Er zuckte die Achseln.
»Ziemlich sicher.«
Es war die einzige schlüssige Erklärung, warum die geheimen Pläne nicht gefunden worden waren.
»Und du glaubst, dass du die Stelle wiederfinden kannst, wo es liegt?«
»Ja.«
Warum fragte sie das? Hatte Sigur sie geschickt, weil er einlenken wollte? Oder war sie selber nicht mehr sicher, ob sie sich in dieser Sache zu Recht mit ihrem Verlobten überworfen hatte.
»Auch im Dunkeln?«
Ole blickte sie irritiert an. Er hatte keine Idee, worauf sie hinauswollte.
»Was meinst du damit, im Dunkeln?«
»Als ich vorhin sagte, Lasse würde Sigur und dich nach Marstrand bringen, habe ich damit gemeint, er würde es sofort tun. Heute Nacht.«
Ole runzelte die Stirn.
Bei diesem Wetter war das Risiko, gesehen zu werden, sicherlich gering. Aber selbst ein Fischer, der sich zwischen den Schären wie in seiner Westentasche auskannte, würde ein Mindestmaß an Sicht benötigen, um sich zwischen den unzähligen Klippen zu orientieren. Unwillkürlich schüttelte Ole den Kopf.
»Er ist bereit, die weitere Strecke übers offene Meer in Kauf zu nehmen«, erklärte Lina, die Oles Bedenken ahnen musste.
»Und Sigur?«, fragte Ole. »Was sagt er dazu? Ich kann mir nicht vorstellen, dass er und ich …«
»Sigur wird nicht mitkommen!«, unterbrach sie ihn und sah ihn direkt an. »Ich habe ihn nicht überzeugen können. Er bleibt hier und wird sich um Tore kümmern, bis wir zurück sind … du und ich.«
Oles Herz tat einen Sprung, und er konnte nicht verhindern, dass sich ein Echo dieser Freude in seinem Gesicht zeigte.
Rasch griff Lina nach seinem Handgelenk, und es war nicht die geringste Spur eines Lächelns in ihren Augen. Sehr leise und sehr eindringlich sagte sie:
»Hör zu, Ole Storm, eine Sache muss dir völlig klar sein: Es geht um die Pläne. Und nur um die Pläne! Wenn ich zu irgendeinem Zeitpunkt das Gefühl haben müsste, dass du mein Vertrauen in dich missbrauchst – egal ob aus einer romantischen Anwandlung oder irgendeinem anderen Grund –, wäre das sehr schlecht für dich. Ich glaube, du hast noch keine Vorstellung davon, wozu ich fähig bin!«
*
Die Strecke von Käringön bis nach Marstrand über das offene Meer betrug annähernd zwanzig Seemeilen, weil ein umfangreiches Riffgebiet namens Pater-Noster-Skären westlich zu umfahren war. Ole nutzte die dreistündige Fahrt, um sich unter einer Regenplane zusammenzurollen und etwas von dem verlorenen Schlaf der vergangenen Nacht nachzuholen.
Als der Fischer ihn eine halbe Stunde nach Mitternacht weckte, merkte Ole, dass auch Lina neben ihn unter die Plane gekrochen war. Ihr Kopf lag an seiner Schulter und ihr gleichmäßiger Atem strich über sein Gesicht. Noch schlief sie. Das Gefühl, so eng neben ihr zu liegen, war umso verwirrender, als sie Ole erst vor wenigen Stunden deutlich zu verstehen gegeben hatte, dass er sich keinerlei »romantische« Hoffnungen zu machen brauchte. Trotz dieser Warnung genoss Ole jede einzelne Sekunde, die es noch dauerte, bis sie erwachte. Aber wenn sie gemerkt hatte, wie nah sie ihm gekommen war, dann zeigte sie es nicht.
Wenig später löschte Lasse die Positionslichter seines Kutters, und sie passierten das Leuchtfeuer in der nördlichen Einfahrt von Marstrand. Es regnete noch immer, und die
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