Die Farbe der Träume
Moment, als die ersten Ängste sein Hirn zu zerfressen begannen. Zwar hatte Harriet gesagt, dass die neue Fundstelle zwei Stunden Fußweg von Kokatahi entfernt sei, aber immerhin lag sie fast direkt gegenüber vom Gemüsegarten des Chinesen. Und Joseph wusste, dass der Chinese – wenn er nur wollte – sämtlichen Goldgräbern am Fluss von diesem Fund erzählen konnte. Er konnte jeden Schürfer von Kokatahi bis Kaniere darüber informieren, dass Joseph Blackstone Gold aus einem Kiesstrand baggerte. Innerhalb von Tagen, ja Stunden, vielleicht sogar noch bevor er überhaupt Gelegenheit hätte, das Terrain zu untersuchen und sich für einen Claim zu entscheiden, wäre er vom Gesindel umringt; sie würden über sein Land herfallen, würden versuchen, ihn wegzudrängen, würden direkt an seinem Uferstreifen schürfen und stehlen, was sie nur fanden. Und dann würde er mit weniger enden – wieder einmal so viel weniger –, als er hätte kriegen können, wenn die Welt nur nicht so überfüllt wäre, wenn die Menschen nur nicht alle von derselben Gier getrieben würden …
In diesem Moment, als hätte sie seine Gedanken erraten, begann Harriet sehr ruhig zu sprechen. Sie sagte: »Ich habe einen Plan entwickelt, und du musst sagen, was du davon hältst. Wenn du jetzt flussaufwärts ziehst und es findet sich dort auch nur ein Hauch von Gold, dann wird man dir folgen, und die unbeschreiblichen Zustände, die hier herrschen, werden im Nu auch dort entstehen. Deshalb sollten wir vielleicht versuchen, ein bisschen Zeit zu gewinnen, was meinst du? Und ich glaube, ich sehe auch eine Möglichkeit.«
Joseph sagte nichts. Er öffnete nur die Augen und betrachtete Harriet im flackernden Licht. Er hatte ihrer Klugheit stets misstraut, sie war für ihn wie ein harter Stein, an dem er unweigerlich stolpern und sich den Fuß verletzen würde.
»Ich werde dorthin gehen, Joseph«, sagte sie. » Ich . Und du bleibst hier. Ich werde heimlich gehen, nachts – morgen Nacht –, und nur mein Zelt, den Hund, ein paar Vorräte und die Waschpfanne mitnehmen. Und am Morgen erzählst du dann den anderen Schürfern, dass Kokatahi zu anstrengend für mich war, dass ich dem Ganzen nicht gewachsen war, dass ich nach Hokitika zurückgekehrt bin. Und sie werden keinen Verdacht schöpfen, wieso auch? Niemand wird mich sehen, weil ich in der Dunkelheit losziehe. Ich werde in Richtung Kaniere flussabwärts gehen und dann auf die andere Seite wechseln und am Ufer entlanglaufen und den Fluss erst wieder durchqueren, wenn ich kurz vorm Garten des Chinesen bin.«
Joseph schwieg eine Weile und dachte, genau das war es doch, was er sich wünschte … die anderen Goldgräber zu überlisten,ihnen voraus zu sein, wenn auch nur für eine gewisse Zeit. Aber dann seufzte er und sagte: »Der Chinese ist die Schwachstelle. Er wird uns verraten.«
Harriet rührte sich nicht. Dann sagte sie: »Ich glaube nicht, dass er die Schwachstelle ist. Ich glaube, es gibt keine Schwachstelle.«
»Doch«, beharrte Joseph. »Ihm wird auffallen, was du da machst, und er läuft doch zweimal die Woche den Fluss rauf und runter. Der erste Teil deines Plans ist sehr schlau. Aber der Haken daran ist, dass die Fundstelle direkt in der Nähe von Chen liegt.«
»Chen? Ist das sein richtiger Name?«
»Ich habe ihn so nennen hören.«
»Vertrau mir. Ich glaube nicht, dass Chen irgendwas von dem, was ich tue, verbreiten wird. Ich habe nämlich seinen Garten gesehen, und ich glaube nicht, dass jemand, der einen solchen Garten anlegt, begierig darauf ist, dass Männer zu Hunderten anrücken und um ihn herum das Land verwüsten. Vertrau mir, Joseph.«
Sie hatte es zweimal gesagt: Vertrau mir .
Doch Joseph dachte: Nach allem, was geschehen ist, wieso sollten wir einander noch trauen, wo wir doch wissen, wie fremd wir uns geworden sind? Sie hat mich aus ihrem Herzen entfernt und zieht mir die Gesellschaft ihres Hundes vor, wieso sollte sie dann nicht dazu fähig sein, selbst das Gold zu nehmen und nie mehr zurückzukehren? Könnte sie nicht heimlich nach Hokitika schleichen, alles Gold, was sie findet, verkaufen und ein Schiff nach Lyttelton oder nach Australien oder Shanghai nehmen? Könnte sie nicht einfach fortsegeln und mich um die Zukunft berauben, die ich mir erträumt habe?
Es war trübe und kalt und schon fast Morgen, als Harriet sich neben ihm niederlegte. Sie wickelte sich fest in ihre Decke und blickte ihn an. An seinen harten, glanzlosen Augen erkannte sie,dass er zu einem Mann
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