Die Farbe des Himmels
sich in der Männerwelt womöglich nicht durchsetzen könnte. Doch Thea blieb stur. Als sie kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag St. Klara für immer verließ und in die Nähe von Böblingen zog, wo sie die Ausbildung bei der Bereitschaftspolizei begann, war die Pappschachtel mit dem Wolltuch in ihrem Gepäck.
Besonders an Tagen wie diesem fühlte sie, dass sie ihre unbekannte Herkunft nie verwunden hatte. Sie hatte zwar gelernt, mit ihrer Traurigkeit umzugehen, und hoffte, dass auch der unterschwellige Hass auf ihre Eltern, der ihr manchmal unangenehm bewusst wurde, mit der Zeit verschwinden würde. Aber sie war nicht sicher, ob sie sich jemals mit der Tatsache aussöhnen könnte, ein Findelkind zu sein. Dieser Makel würde für immer an ihr haften bleiben.
Sie faltete das knisternde Papier auseinander und nahm das Tuch heraus. Die Farben waren etwas verblasst, aber es fühlte sich immer noch sehr weich an. Thea drückte es an ihr Gesicht und sog den würzigen Duft der Schafwolle ein. Sie strich zärtlich darüber und breitete es auf dem Boden aus. Es war ein großes Dreieck, dessen kurze Seiten mit bunten Fransen verziert waren. Die Längsseite war leicht ausgefasert. Thea fragte sich immer wieder, wem es wohl gehört hatte, obwohl sie ahnte, dass sie keine Antwort auf diese Frage bekommen würde.
Als sie den Stoff wieder zusammenrollte, sah sie auf dem Teppich darunter das Stück Papier, das beim Auspacken herausgefallen sein musste. Sie hob es auf und las, wohl zum tausendsten Mal, die mit roter Tinte geschriebenen Worte. Wenigstens einen Namen hatte ihre Mutter ihr mit auf den Weg gegeben, bevor sie sie ihrem Schicksal überließ.
Gedankenverloren legte sie das Tuch und den Zettel in die Schachtel und schob sie in die hinterste Ecke des Kleiderschranks zurück.
ZWEI
»Scheiße!«, murmelte Thea nach einem Blick auf die Uhr, die bereits zehn nach acht zeigte. Sie fühlte sich völlig zerschlagen. Verschwommen erinnerte sie sich, so etwas wie einen Wecker gehört zu haben. Dann hatte sie es wohl vorgezogen, sich die berühmten fünf Minuten zu gönnen, und sich noch einmal auf die andere Seite gedreht. Aus den fünf Minuten war eine volle Stunde geworden. Thea sprang aus dem Bett, rannte ins Bad, warf dabei die Stehlampe um, rief noch einmal »Scheiße«, und gerade, als sie durch die Badezimmertür stürmte, klingelte im Schlafzimmer das Telefon. Mit einem Stoßseufzer rannte sie zurück und riss den Hörer ans Ohr, während sie mit dem Knie schmerzhaft an die Nachttischkante stieß.
»Ja doch! Ich hab verschlafen. Bin in einer halben Stunde da«, keuchte sie in den Hörer.
»Wo? Bei mir?«, fragte ihre wie immer gut gelaunte Freundin Karolin. »Ich hab gestern in den Spätnachrichten von dem Mord an diesem Hauser gehört. Habt ihr schon eine Spur?«
Karolin war Theas beste Freundin und hatte viele gute Eigenschaften, die Thea sehr schätzte. Ihre Neugier gehörte allerdings nicht dazu.
»Wir wissen auch noch nicht viel mehr, als das, was in den Medien kam«, blockte Thea ab. »Karo, ich bin total im Stress. Wenn ich’s irgendwie schaffe, komme ich heute Abend bei dir vorbei.«
»Okay, okay, ich leg schon auf. Tschüüüss und schönen Tag noch«, flötete Karolin.
»Der kann jetzt nur noch besser werden«, sagte Thea ins Leere, denn Karolin hatte bereits aufgelegt.
Sie knallte den Hörer auf die Gabel und humpelte ins Bad. Während sie sich auszog, murmelte sie: »Und wenn jetzt das warme Wasser wieder streikt, kriege ich einen Anfall!«
Das Duschen hatte nicht lange vorgehalten. Als Thea um Viertel vor neun in die Besprechung platzte, war sie völlig verschwitzt. Alle Köpfe drehten sich zu ihr um.
»Tut mir Leid«, murmelte sie und sank auf einen freien Stuhl, der praktischerweise direkt neben der Kaffeemaschine stand. Sie beschloss, diesen Umstand als ein gutes Omen für den restlichen Tag zu werten, und goss sich eine Tasse ein.
»Bist du mit deinem Corsa in ein Schlagloch gestürzt?« Das kam natürlich von Messmer, diesem Ausbund an Taktgefühl und Liebenswürdigkeit. Thea entschied, die Bemerkung zu überhören.
»Hab ich was verpasst?«, fragte sie Rudolf Joost, der am Kopfende des langen Tisches saß und in seinen Unterlagen blätterte.
»Wie man’s nimmt. Wir hatten heute früh auf dem Hinweisapparat einen Anruf, der recht vielversprechend klang. Der pakistanische Gärtner des Zahnarztes von schräg gegenüber rief an und sagte, er habe gestern, kurz bevor die Putzfrau
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