Die Farbe des Himmels
warst du die Klassenbeste in Psychologie. In Sachen Täterprofile und Motive konnte dir keiner das Wasser reichen. Aber für deine eigenen Motive bist du blind.«
»Welche Motive denn?« Thea wollte das gar nicht wissen, fühlte sich aber genötigt, etwas zu sagen.
»Man konfrontiert sich unbewusst immer wieder mit seinen Problemen, um sie zu lösen oder zumindest zu lernen, damit umzugehen. Warum sonst heiraten Töchter von Alkoholikern in den allermeisten Fällen einen Alkoholiker? Kannst du mir darauf eine vernünftige Antwort geben?«
»Das Milieu ist ihnen vertraut«, gab Thea zurück, während sie die gipsernen Putten über der Theke betrachtete. Dieses Abbild der Unschuld und Reinheit kam ihr plötzlich absurd vor. »Das schafft ihnen eine Art Sicherheit, so abartig das auch klingt.«
»Aha«, entgegnete Hannes im Ton eines Oberlehrers. »Und du fühlst dich am wohlsten unter Leuten, die Angehörige verloren haben. Weil dir das Milieu vertraut ist.«
»Du bist ein Klugscheißer, Hannes.« Thea stand abrupt auf und legte einen Fünf-Euro-Schein auf den Tisch. »Nein, du lädst mich nicht ein«, fuhr sie ihn an, als er protestieren wollte. Ohne ihn auch noch eines Blickes zu würdigen, wandte sie sich ab und eilte zum Ausgang.
»Thea, du denkst doch dran, beim Pragfriedhof anzurufen?«, hörte sie noch einen kleinlauten Hannes hinter sich her rufen, bevor die Glastür hinter ihr zufiel.
*
7. August
Inzwischen geht es mir etwas besser, nachdem ich gestern fast eine Stunde lang mit Sofia telefoniert und ihr von meiner Begegnung mit Dali erzählt habe. Ihr gelingt es immer, mich aufzurichten. Wobei sogar sie diesmal einige Sekunden lang sprachlos war, als ich ihr sagte, dass meine Schwester schon seit Jahren ein Verhältnis mit dem Mann unterhält, der mich als Jugendliche vergewaltigt hat. Ich kann es noch immer nicht glauben. Jedes Mal, wenn ich mir diese Tatsache vergegenwärtige, ergreift mich eine solche Wut, dass ich meine, zu allem fähig zu sein. Dann mache ich mir klar, dass es dreißig Jahre her ist und ich das alles allmählich überwunden haben müsste. Aber die Zeit ist eine Erfindung der Menschen.
Manchmal glaube ich, dass sie in Wirklichkeit gar nicht existiert. Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich das Gesicht einer siebenundvierzig Jahre alten Frau mit Falten um die Augen; doch durch diese Augen blickt mich ein verzweifeltes, sechzehnjähriges Mädchen an. Es ist noch immer bei mir und wird es für immer bleiben, auch wenn ich hundert Jahre alt werden sollte.
VIER
»Guten Morgen, Thea, ich bin’s, Karolin. Du wirst doch heute nicht tatsächlich mal frei haben?«
Thea riskierte einen Blick auf den Wecker, während sie mit der freien Hand vergeblich versuchte, ihren BH zu schließen. In einer knappen Stunde sollte sie mit Messmer bei Merkle sein.
»Fehlanzeige. Ich fahre gleich mit meinem Lieblingskollegen zu einem Zeugen.«
»Aha, dein Lieblingskollege. Erwischt!«
»Ach komm, Karo. Früher hast du meine Ironie besser verstanden.«
»Gibt’s was Neues in eurem Fall?«
»Wir haben seit gestern einen Tatverdächtigen im Polizeigewahrsam.«
»Wow! Und wieso müsst ihr dann heute arbeiten? Lasst ihn doch bis Montag schmoren.«
»Wir dürfen ihn nur einen Tag lang festhalten, dann muss er dem Haftrichter vorgeführt werden. Und bis dahin müssen wir so viele Indizien zusammengetragen haben, dass es für die U-Haft reicht.«
»Dann hast du heute gar keine Zeit mehr?«
»Mittags müsste ich eigentlich zurück sein. Hast du was Besonderes vor?«
»Bastian kommt heute nach Stuttgart, weil er in die Stiftskirche muss. Er hat ein paar Werkzeuge dort vergessen und vom Bauleiter die Schlüssel bekommen, um sie zu holen. Dieser Verrückte schafft sogar am heiligen Sonntag – genau wie du.«
»Heißt das, wir können die Kirche noch vor der Neueröffnung sehen?«
»Genau. Und anschließend gehen wir irgendwo essen.«
Karolin war seit zwei Jahren mit Bastian befreundet. Er arbeitete für die Firma Mühleisen, die die neue Orgel für die Stiftskirche baute. Da er die meiste Zeit in der Werkstatt in Leonberg verbrachte, sahen sich die beiden nicht allzu oft.
»Ich denke, ich kann so zwischen eins und halb zwei am Schillerplatz sein. Nimm dein Handy mit, falls es später wird. Treffen wir uns am Denkmal?«
»Einverstanden. Ich freu mich.«
Als Thea zu Messmer ins Auto stieg, registrierte sie sofort, dass er wieder diese affige Sonnenbrille trug. Zum Glück hatte
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