Die Farbe des Himmels
könnte jetzt ins Auto steigen und wegfahren, bevor sie mit Blaulicht und quietschenden Reifen vor dem Hotel halten. Ich könnte sofort packen und verschwinden. Aber wohin? In Italien finden sie mich doch auch. Und warum überhaupt fliehen? Was hat mein Leben noch für einen Sinn? Es ist völlig gleichgültig, ob ich hier bleibe oder wegfahre. Es ist überhaupt alles völlig gleich.
Theas Gedanken drehten sich im Kreis. Unendlich langsam begriff sie, was sie soeben gelesen hatte. Sie hob den Blick vom Tagebuch und starrte auf den Tep pich, ohne dessen Muster wahrzunehmen. Erst als Messmer mit einer Hand voll Papiertücher aus dem Bad kam und sie ihr reichte, merkte sie, dass sie weinte.
»Diese Theresa, soll das ihre Tochter sein?«, fragte er.
»Das ist mein Vorname«, flüsterte Thea. »Ich bin diese Theresa. Im Schrank ihrer Schwester habe ich die zweite Hälfte des Ponchos gefunden, in den ich eingewickelt war, als man mich als Neugeborenes vor dem Olgahospital …« Ihre Stimme versagte.
Einige Augenblicke lang war es im Zimmer so still, dass man trotz der Schallschutzfenster den Verkehr auf der Willy-Brandt-Straße hören konnte.
»Das heißt, diese Franziska Linder, die sich gerade die Pulsadern aufgeschnitten hat …«
»… ist meine Mutter«, flüsterte Thea. Das Zimmer begann sich um sie zu drehen. Thea schloss die Augen.
»Du weißt also schon seit der Durchsuchung gestern …« Messmer hielt inne und starrte sie ungläubig an.
»Zuerst habe ich gedacht, Antonia sei meine Mutter. Auf ihre Schwester bin ich nicht gekommen.«
»Warum hast du nichts gesagt?«
Erst jetzt merkte Thea, dass er den Arm um sie gelegt hatte. Es tat gut. »Ich hab heute Morgen mit Walter gesprochen.« Sie blinzelte vorsichtig zu Messmer rüber, konnte aber keine Regung in seinem Gesicht erkennen. Vielleicht eine Spur Enttäuschung, aber das mochte sie sich einbilden.
Messmer öffnete die Minibar und nahm eine kleine Flasche Whisky heraus. Im Bad fand er ein sauberes Zahnputzglas und goss es halb voll.
Er drückte ihr das Glas in die Hand. »Hier, trink das.«
»Ich bin im Dienst«, widersprach Thea schwach, dann aber nahm sie den Whisky und stürzte ihn in einem Zug hinunter.
»Jetzt nicht mehr.« Messmer nahm ihr das Glas aus der Hand und füllte es nach. »Ich bring dich nach Hause und fahr dann noch mal zum Präsidium. Das Tagebuch nehme ich mit.«
»Nein!« Thea hatte zu ihrer eigenen Überraschung geschrieen. »Ich nehme es mit. Ich werde es heute Nacht durchgehen. Ich muss wissen, was drinsteht!«
Messmer atmete tief durch. »Du weißt, dass es Beweismaterial ist.« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
»Das weiß ich. Und ich werde dieses Beweismaterial auswerten. Du kannst mir einen offiziellen Auftrag dazu erteilen, wenn dich das beruhigt.«
»Ich weiß nicht, ob ich dir das zumuten kann.« Er sah besorgt aus. »Du bist jetzt schon völlig durcheinander.«
»Micha, bitte! Wenn ich nicht bald erfahre, was hier drinsteht, drehe ich durch. Mach es mir nicht noch schwerer.«
»Also gut. Es hat ja doch keinen Sinn, dich daran zu hindern.« Er stand auf. »Steck es ein. Was soll ich den Kollegen sagen?«
»Du kannst es ihnen ruhig erzählen. Ströbele weiß ohnehin schon Bescheid. Und die anderen müssen es früher oder später auch erfahren.«
»Gut. Bist du wieder okay?«
Thea nickte, wischte sich über die Augen und setzte sich auf die Bettkante.
»Dann gehen wir jetzt. Hast du Schnaps im Haus?«
»Nur Rotwein.« Thea empfand sogar das Sprechen als anstrengend.
»Der tut’s im Notfall auch.« Er führte sie auf den Flur hinaus, hielt sie mit einer Hand unter dem Arm fest und klebte mit der anderen ein Polizeisiegel an die Zimmertür.
Kaum hatte Thea ihre Wohnungstür hinter sich geschlossen, warf sie sich aufs Bett und schlug die erste Seite des Tagebuchs auf. Ihr Herz schlug wie ein Hammer. Franziska Linder war ins Katharinenhospital gebracht worden. Es sei noch viel zu früh, um Prognosen zu stellen, hatte der Arzt gesagt, morgen früh könne man vielleicht schon mehr sagen. Thea sprach ein leises Gebet und dachte flüchtig daran, dass sie sehr lange nicht mehr gebetet hatte. Sie sah auf das ledergebundene Büchlein und hatte Angst, es zu lesen.
Mach dich nicht lächerlich, schalt sie sich selbst, als sie sich ihrer Feigheit bewusst wurde. Trotzdem holte sie ein Glas Rotwein, um sich Mut anzutrinken, bevor sie zu lesen begann.
20. Mai 1972
Ob, mein Gott! Mama und Papa sind
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