Die Farben der Finsternis (German Edition)
dem Papier war sie die perfekte Kandidatin für diesen Job, aber ich konnte ihr trotzdem kein positives Gutachten geben.«
»Hat sie gelogen?«
»Nein.« Als Hask den Kopf schüttelte, wabbelten seine vielen Kinne. »Nein, ich glaube nicht, dass sie wusste, wasfehlte. Es war etwas anderes.« Er beugte sich vor und nahm noch ein Küchlein, von dem er diesmal ein Stückchen abbrach und nachdenklich kaute.
»Sie war zu unbeteiligt. Ich hatte das Gefühl, dass ihre Angst gespielt war.« Er warf Cass einen Blick zu. »Ein Teil des Gutachtens befasst sich mit Reaktions- und Bildertests. Ihr Gesicht und ihr Herzschlag präsentierten für jedes Bild und jede Situation, die wir ihr zeigten, genau das richtige Ergebnis.«
»Und das war das Problem?«, fragte Cass.
»Es war einfach zu genau, zu vollkommen – niemand reagiert haarscharf so wie im Modell, jedenfalls nicht immer. Wir haben alle unsere Macken und Geheimnisse – Sachen, die uns gegen unseren Willen aufregen, vor denen wir uns fürchten. Es kam mir vor, als hätte sie gar keine persönlichen Reaktionen, sondern als hätte sie das Gewünschte auswendig gelernt und abgerufen.«
»Geht das?«
»Technisch gesehen, ja. Diese Tests sollen eigentlich geheim gehalten werden und variieren von Jahr zu Jahr, aber natürlich kann man da rankommen. Allerdings« – er schluckte den Rest des Kuchens hinunter – »sollte niemand seine Reaktionen so weit spielen können, völlig unabhängig davon, ob man den Test kennt oder nicht, und schon gar nicht so perfekt, dass sogar der Tester getäuscht wird. Es läuft ein wenig so wie bei einem Lügendetektor, man achtet auf Reflexe wie Pupillenerweiterung, Beschleunigung des Herzschlags und dergleichen. Die verbalen Reaktionen spielen eigentlich keine Rolle. Mogeln ist unter diesen Umständen so gut wie unmöglich.«
»Und doch glauben Sie, dass Abigail Porter es getan hat?«
»Ihre Ergebnisse waren zu hundert Prozent richtig, unddas ist ausgeschlossen. Mir reichte das, um sie durchfallen zu lassen. So ein Gutachten hatte ich noch nie.«
»Und trotzdem hat sie den Job bekommen«, sagte Cass.
»Die Menschen sind unberechenbar. Vielleicht hatte sie Freunde in der Chefetage.« Hask lächelte, aber Cass lief ein kalter Schauer über den Rücken. Jemand hatte gewollt, dass Abigail Porter diesen Job bekam, und wenn es nicht Mr Bright gewesen war, dann ein anderes Mitglied des Netzwerks. Vielleicht war die Familie Jones nicht der einzige Spielball dieser Geheimorganisation mit ihrem unerschöpflichen Vermögen auf den X-Konten.
Er wurde durch ein Klopfen an der Tür aus seinen Gedanken gerissen. Eine junge Frau blieb nervös auf der Schwelle stehen.
»DI Jones?«
Cass nickte.
»Für Sie wurde ein Päckchen geliefert. Anscheinend muss der Herr es persönlich übergeben.« Sie machte Platz für einen großen Mann im dunklen Anzug.
Der Mann lächelte nicht, sondern starrte Hask und Cass eindringlich an, ehe er näher kam. »Dürfte ich Ihren Ausweis sehen?« Er sprach akzentfrei und bewegte sich mit athletischer Leichtigkeit.
Angesichts seiner Gesamterscheinung sehnte Cass sich nach einer Zigarette. »Nun mal halblang.« Cass grinste, als er ihm seinen Dienstausweis zeigte. »Sie wissen doch genau, wer ich bin.«
Der Mann untersuchte den Ausweis und reichte ihm das Päckchen. »Das ist von Fletcher.« Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging, die arme Frau im Schlepptau.
»Den hätte ich sofort durchgewunken«, sagte Hask. Er blickte auf den dicken Umschlag in Cass’ Händen. »Fletcher, ach ja? Bei Ihnen geht es immer ums Ganze, Cass.«
»Und Sie wissen so gut wie nichts davon.«
»Sind Sie sicher, dass es nicht noch zu früh ist?«
Die Frage kam aus heiterem Himmel, und einen Augenblick lang wusste Cass nicht, was er meinte. Doch dann kam alles wieder zurück. Kate, Claire, Bowman. Der Fliegenmann. Das hatte Hask gemeint.
»Mir geht’s gut.« Etwas anderes fiel ihm nicht ein.
»Sie sehen müde aus, finde ich.«
»Bin ich auch, aber ansonsten geht es mir gut.« Cass lächelte.
Der Arzt lächelte zurück. »Gut. Wenn Sie nicht mehr ganz so viel zu tun haben, können wir ja mal ein Bier trinken gehen.«
»Hört sich gut an.«
Bevor Cass den Umschlag aufriss, zündete er sich eine Zigarette an. Es war mitten am Tag und das hell erleuchtete Parkhaus im Keller war leer. Er zog den Inhalt heraus und las die Nachricht von Fletcher. Ich gehe davon aus, dass Sie schlau genug sind, dieses Material zu vernichten,
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