Die Farben der Finsternis (German Edition)
Antwort lag keinerlei Aggression, eher ein Hauch von Humor.
Cass machte einen Schritt auf ihn zu. War der Penner betrunken? Sie standen jetzt fast voreinander und seiner verdreckten Erscheinung nach hätte der Alte stinken müssen. Doch Cass roch gar nichts, keinen abgestandenen Schweiß, keinen Alkohol, nichts.
»Es ist ein bisschen spät, um draußen Musik zu machen«, sagte er.
Der Mann lachte leise. »Ich stör doch keine Anwohner, mein Sohn.«
Wo er recht hatte, hatte er recht.
»Wo haben Sie gelernt, so zu spielen?«
»Weiß ich nicht mehr genau.« Im Oberkiefer fehlte ein Zahn; wenn er lächelte, sah man die Lücke. »Schon länger her. Wahrscheinlich vor Ihrer Geburt, und Sie sehen auch nicht aus wie ’n Frischling.« Er lachte wieder und diesmal musste auch Cass lächeln.
»Geben Sie gut darauf acht.« Cass wies auf das polierte Holz der Geige. Sie sah alt und gepflegt aus, aber er konnte nirgends einen Koffer entdecken. »Sie scheint nicht gerade billig zu sein.«
»Sie ist wert, was sie wert ist. Dem einen mehr, dem anderen weniger. Wie die meisten Dinge.« Er beugte sich vor und sah Cass direkt in die Augen. »Kommt immer auf die Perspektive an.«
»Wie Sie meinen.« Cass trat seine Zigarette aus und wollte gehen. Der alte Mann tat keinem was zuleide; er konnte auf dem Friedhof so lange Geige spielen, wie er wollte. »Passen Sie auf sich auf.« Cass drehte sich nichtnoch mal um. Er hatte zu viel im Kopf, um sich um einen alten Penner und seine rätselhaften Bemerkungen zu kümmern.
»Pass selber auf, Cassius Jones.« Cass war schon fast am Kirchentor, als die Stimme ihn einholte. »Vor allem hinter deinem Rücken.«
Cass’ Blut gefror zu Eis. Er drehte sich um. »Woher wissen Sie, wer ich …?«
… bin, wollte er sagen, aber er beendete den Satz nicht. Die Bank war leer, der alte Mann fort. Er starrte lange in die Finsternis, bevor er nach Hause ging. Dort hatte er noch Wodka; den brauchte er jetzt.
Eigentlich sollte es kühler werden, aber am nächsten Morgen war es um 8:15 Uhr warm und schwül und fühlte sich überhaupt nicht nach Anfang Oktober an. Die Hitze verdrängte rasch die Frische, die er nach der Dusche genossen hatte, und er fühlte sich schrecklich verkatert. Nachdem er die Nacht durchgetrunken und durchgegrübelt hatte und schließlich auf dem Sofa eingeschlafen war, hätte er einen kühlen, knackigen Morgen besser vertragen, doch heute war das Wetter nicht sein Freund. Ausnahmsweise hatte die Vorhersage recht behalten: London erlebte einen Altweibersommer.
Im Auto scrollte er sich durch die Telefonnummern in seinem Handy, bis er die von Artie Mullins fand. Rasch schickte er ihm eine SMS, die aus einem einzigen Satz bestand – »Kann ich später vorbeikommen und was abholen? C« – und tippte auf Senden, bevor er es sich anders überlegte. Mullins war sicher schon wach, der Typ schlief nie mehr als zwei, drei Stunden, aber falls Cass’ einstiger Freund ihn auflaufen ließe, konnte er auf eine etwaige unangenehme Unterhaltung verzichten. Sie hatten ein bisschen Stress,doch Cass konnte Artie keinen Vorwurf machen, wenn er wütend auf ihn war und im Moment auf Distanz ging.
Der alte Londoner Gangster wusste, dass Cass seinem Geschäft nicht absichtlich geschadet hatte. Es war gewissermaßen ein Kollateralschaden gewesen, als er den Mord an Christian und die Erschießung zweier Jungen aufgeklärt hatte. Das Ergebnis blieb das Gleiche: alle illegalen »Boni«, die von den Londoner Firmen an die Polizei gezahlt wurden, waren nach der Welle von Verhaftungen auf unbestimmte Zeit ausgesetzt worden. Gut, es war DI Bowmans Schuld gewesen, dass er sie benutzt hatte, um ein eigenes Verbrechersyndikat auf die Beine zu stellen, aber Cass hatte die Sache nun mal aufgedeckt. Niemand wollte dabei erwischt werden, wie er jemanden schmierte, jedenfalls nicht, bis die ganze Scheiße vorbei war, und wenn sie deshalb nichts mehr nebenher verdienten, mussten alle Detectives in London ihre Darlehen eben legal abzahlen, von der erfolgsabhängigen Bezahlung also. Die Geschäfte waren geplatzt und die Bruderschaft der Verbrecher war wieder zum Abschuss freigegeben.
Von beiden Seiten hatte Cass kein Dankeschön zu erwarten.
Dazu kam, dass alle Bullen in London eifrig vertuschen wollten, wie weit das Händchenhalten zwischen der Met und Londons kriminellen Elementen gegangen war. Artie hatte es bestimmt nicht geholfen, dass ausgerechnet er Cass’ Kontaktmann gewesen war – irgendwas blieb immer
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