Die Farben der Finsternis (German Edition)
Regierungen, Banken und großen Unternehmen stand, soweit er das beurteilen konnte. Und Die Bank führte auch die X-Konten, die mit einer seltsamen Erlösung genannten Datei zu tun hatten, die er vor einem halben Jahr unmittelbar nach dem Tod seines Bruders auf Christians Laptop gefunden hatte. Cass hatte nichts damit zu tun haben wollen. Das Netzwerk hatte vielleicht Dateien, in denen es um die Familie Jones ging, aber Cass wollte sich nicht in diese Spielchen hineinziehen lassen, auch wenn der geheimnisvolle Mr Bright behauptete, ihn im Blick zu haben. Alles in allem war die »besondere Pflege« seinen Eltern und seinem Bruder nicht gut bekommen. Doch jetzt sah es ganz so aus, als bliebe ihm nichts anderes übrig, als wieder in dieses Wespennest zu stechen.
Er spürte seine seelische Erschöpfung, als er an den Geschäftenund den letzten Restaurants vorbei zum ruhigeren Ende der High Street ging. Im Schatten ragte dunkel eine Kirche auf, umgeben von Bäumen und Sträuchern. Cass hob nicht mal den Kopf. Der Glaube war seiner Familie auch nicht gut bekommen.
SIE haben Luke. Das war eine Feststellung, keine Frage. Christian war ein Pedant gewesen. Wenn er Cass die Notiz hinterlassen hatte, musste er sicher gewesen sein, dass er nicht seinen leiblichen Sohn großgezogen hatte. Cass blieb stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden, und sah der ersten bleichen Rauchwolke nach. Er verstand auch, was Christian im Gespräch mit Marlowe gemeint hatte: Er hatte Jessica und Luke – den Jungen, in dem er seinen Sohn gesehen hatte – zu sehr geliebt, um sie mit solchen Neuigkeiten zu verstören, auch wenn es ihn selbst zerrissen hätte.
Cass hatte immer gewusst, dass er anders war als Christian, doch erst im letzten halben Jahr hatte er begriffen, wie groß der Unterschied wirklich gewesen war. Der eine war blond, der andere dunkelhaarig, und auch in vielen anderen Bereichen waren sie wie Licht und Schatten gewesen. Christian wusste, dass Cass – der Bruder, der mit seiner Frau geschlafen hatte – schaffen konnte, was ihm nicht gelungen war, dass er, koste es, was es wolle, das Baby finden konnte, das bei der Geburt verschleppt worden war.
Cass hatte geglaubt, dass sie im Erwachsenenalter auf Distanz gegangen waren, aber das stimmte so nicht. Christian hatte Cass sehr gut verstanden. Cass selbst hatte erst nach dem Mord an seinem jüngeren Bruder begonnen, ihn allmählich zu verstehen.
SIE . Sogar Christian hatte sich gescheut, Namen zu nennen oder das Netzwerk zu erwähnen, obwohl er doch viel offener damit umgegangen war als Cass. Die Jungs sehendas Leuchten! Ja! Das hatte ihre aufgeregte Mutter auf die Rückseite eines alten Fotos geschrieben, aber auf dem Bild hatte der kleine dunkle Junge die Stirn gerunzelt, während der blonde sich gefreut hatte. Der eine hatte das Leuchten angenommen und damit gelebt, während der andere es abgewehrt und verdrängt hatte. Und jetzt war der eine tot und der andere lebte noch. Dieser Vergleich wog für Cass am schwersten: Das Netzwerk war eine persönliche Bedrohung für ihn. Er verstand zwar nicht, warum, aber mit jeder Faser seines Körpers wusste er, dass es stimmte, und er vertraute seinem Instinkt. Damit war er bisher gut gefahren.
Sanfte Geigentöne schwebten über das Gelände der Kirche. Cass erkannte die Melodie nicht, aber es war eine Art Blues, geboren in den tiefen Südstaaten, unverbildete Musik, von rauen Händen auf den Stufen staubiger Baracken gespielt.
Cass folgte den Geigentönen über die großen Steinplatten an der Kirchentür vorbei zu einem kleinen Friedhof. Auf der Lehne einer alten Bank hockte eine Gestalt, die Füße auf der Sitzfläche. Cass, der in Gedanken noch bei seinem Bruder war, erwartete fast, Christians glänzende schwarze Halbschuhe zu sehen, aber nein, sein Geist war es nicht. Der alte Mann verzog das runzelige Gesicht zu einem Lächeln und spielte einen letzten, gehaltenen Ton, ehe er die Geige sinken ließ. Er beugte sich vor. Obwohl es dunkel war, sah Cass, dass der Alte schmutzige Hände und Dreck unter den Fingernägeln hatte.
»’n Abend«, sagte er. Die barsche Stimme verriet den Londoner und erzählte von einem Leben auf Pappkartons und Türschwellen. Die Hose reichte dem Mann nur bis zu den Waden, und als er aufstand, war sie gute fünf bis sechs Zentimeter zu kurz.
»Ich weiß nicht, ob Sie hier sein sollten«, antwortete Cass.
»Sie kennen mich doch gar nicht. Woher wollen Sie dann wissen, wo ich sein sollte?« In seiner
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