Die Farben der Finsternis (German Edition)
Luft . Die Worte schmeckten wie Scheiße auf ihrer Zunge. Seine schmolzen wie Honig in ihren Ohren. Hinter ihr war Geschrei zu hören. Die Polizei war da. Ihre Leute. Gleich würden sie da sein. »Ich gehöre zur Familie.« Das Grinsen wurde breiter. Wieder rannen Blutfäden über seine Lippen.
»Nimm«, sagte er und streckte die Hand aus. Sie beugte sich vor und schloss die Hand um das kühle Fleisch. Alles ging zu Ende. In ihrem Kopf war es dunkel, Farben blitzten in Hunderten von Gold- und Lichtschattierungen. Bilder, die sie nicht verstand, reichten bis in die leeren Räume, die sich in aller Stille nach ihnen gesehnt hatten.
Als er losließ, schnappte sie nach Luft. Einen Augenblick lang vergaß ihr Körper, wie man atmete, während sich die Zellen wieder sortierten, eine zur anderen, um etwas Neues zu bilden. Ein scharfer Schmerz zog vom Hals über ihren Kopf, als hätte jemand einen Spieß eingerammt. Ihre Pistole fiel scheppernd auf den Bahnsteig.
Schritte donnerten die Treppe herunter. Männerstimmen brüllten befehlshaberisch und drohend. Werde leer.
»Interventionist«, flüsterte der Dicke. Die Schmerzen hörten auf. Sein schönes Wort hörte sich nass an, als würde das Blut in seinem Mund nun seine Lungen verstopfen. Er zwinkerte Abigail zu.
Im heißen Brüllen, das aus dem Tunnel kam, standen ihr die Haare zu Berge. Eine Bahn kam. Der Mann trat zurück. Abigail konnte nicht sprechen. Hände packten ihre Arme und zogen sie weg, um besser an die Zielperson heranzukommen. Alles bewegte sich wie in einem Nebel. Dunkle Augen sahen sie an . Der einfahrende Zug. Das Lächeln, als der fette Mann elegant vom Bahnsteigrand sprang. Sie kniff die Augen zu, um den Zusammenstoß nicht sehen zu müssen. Einige Frauen schrien. Die Bahn kreischte mit.
Einen Moment lang war es still.
»Verdammte Scheiße!«
Abigail sah den schwitzenden Beamten der Sicherheitspolizei, der neben ihr stand, nicht an. Sie schaute auch nicht über den Rand auf die Schweinerei, die über hundert Meter auf den Gleisen und Bahnsteigwänden verteilt war. Zitternd versuchte sie sich daran zu erinnern, wie es sich angefühlt hatte, als er sie berührt hatte. Vollständigkeit . Es war weg – nicht weit weg, dachte sie, aber wie etwas, was man verlegt hatte und nicht wiederfand, egal wie schnell man sich umdrehte.
»Geht’s?«, fragte der Polizist.
Sie nickte und öffnete die Faust. Sie hatte das Gerät so fest umklammert, dass es einen Abdruck seiner vertrauten Form hinterlassen hatte. Ein Kuli. Ein gewöhnlicher schwarzer Kugelschreiber.
Noch mehr Stimmen.
»Alles abriegeln!«
»Moment, keiner bewegt sich! Sie sind in Sicherheit …«
»… rühren Sie sich nicht von der Stelle. Das gilt auch für Sie, Sir. Nein, Sie können hier nicht weg …«
»Wer hat diesen Mann gesehen? Wer hat gesehen, was passiert ist?«
»Sie? Bleiben Sie bitte hier stehen.«
Ein ganz normaler Kuli. Sie drückte drauf, ganz ohne Angst. Der Stift kam unten heraus. Sie drückte wieder. Er verschwand.
»Um Gottes willen, was machen Sie da?« Er wurde ihr weggenommen. »Was machen Sie denn da?«
»Das ist nur ein Kuli«, antwortete sie. Sie schaute nicht auf. Ihr Blick ging ins Nichts. »Kein Zünder. Nur ein Kuli.«
10
Cass rief Cory Denters Vater persönlich an. Das Gespräch war etwas förmlich, aber ohne den vorherigen Anklang von Aggressivität. Vielleicht hatte die Familie Denter über Nacht beschlossen, dass jedes Warum besser war als die Vorstellung, dass ihr Sohn sich aus einem Grund umgebracht hatte, den sie nicht kannten. Der ältere Mann hörte schweigend zu. Cass sagte Worte, die er schon so oft benutzt hatte: Wir müssen die Leiche ihres Sohnes auf bestimmte Dinge untersuchen. Wir müssen eine volle Obduktion durchführen. Sobald wir Ihnen seine Leiche zurückgeben können, melden wir uns. Nein, mehr kann ich Ihnen im Moment nicht sagen, aber Sie hören so bald wie möglich von uns. Irgendwie waren die vorformulierten Sätze aber auch tröstlich. Sie nahmen den Angehörigen etwas von der Bürde der Trauer ab. Trotzdem musste diese Trauer irgendwohin, und das bedeutete in den meisten Fällen leider, dass sie direkt auf Cass’ Schultern landete.
Artie Mullins schickte eine kurze SMS: Zeit und Ort für ein Treffen. Cass überließ es Armstrong, mit den anderen Familien zu sprechen und die Vorbereitungen für die Exhumierung zu überwachen, und fuhr nach Soho, um seinen ehemaligen Freund zu treffen. Als er im Londoner Verkehr stecken blieb,
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