Die Farben der Finsternis (German Edition)
hatte. Das war natürlich nicht der Fall. Heute konnte kein Anschlag verübt werden; dafür sorgten die hervorragend ausgebildeten Spezialisten, die über das Gelände verteilt waren.
Während der Rede der Premierministerin behielt Abigail ihre Konzentration bei. Ihr Herz schlug ruhig und regelmäßig. Sie dachte nicht darüber nach, was für einen seltsamen Beruf sie hatte, auch nicht über ihre Bereitschaft, sich, ohne zu zögern, in eine Kugel zu werfen. Man konnte es nennen, wie man wollte, aber darum ging es im Wesentlichen bei dieser Aufgabe. Ihre einzige Verantwortung bestand darin, sicherzustellen, dass die Premierministerin bei einem etwaigen Attentat nach Möglichkeit überlebte, was ihre eigenen Chancen deutlich verringerte. Sie war dafür ausgebildet worden, sich so zu bewegen und die Winkel so zu berechnen, dass sie möglichst, ohne zu sterben, von einer Kugel getroffen werden konnte, aber in Wirklichkeit war esGlückssache, das wusste jeder. Die Ausbildung diente dazu, nachts besser zu schlafen.
Abigail wusste auch, dass ihre Kollegen sie schief ansahen. Sie verstanden nicht, warum eine junge, attraktive Frau sich für diesen Posten bewarb, vor allem seitdem so viele Anschläge auf Staatsoberhäupter verübt wurden. Sie passte nicht ins Bild. Das war auch in den Vorstellungsgesprächen deutlich geworden, doch ihre Testergebnisse hatten sowohl in körperlicher als auch in mentaler Hinsicht überzeugt, und das psychologische Gutachten hatte bewiesen, dass sie die beste Anwärterin auf die Position war – und jetzt stand sie hier, ein Double für den Tod.
Während der Rede wurde McDonnell munter weiterfotografiert. Abigail ließ den Blick von links nach rechts über die Zuschauermenge und die Gruppe der Angehörigen schweifen. Nichts Verdächtiges zu sehen, wie erwartet. Ihr Blick wanderte weiter …
… und sie erstarrte. Ihr Herz schlug schneller. Ganz hinten, dicht hinter den letzten trauernden Angehörigen, stand jemand. Vor einigen Sekunden war er noch nicht da gewesen. Ihr Mund wurde trocken, als er lächelte. Dieses Lächeln war für sie bestimmt. Noch aus dieser Entfernung konnte sie die dunkelroten Flecken auf seiner Haut erkennen, die sich über sein breites Gesicht zogen. Er trug einen dunklen Anzug. Mit einer Hand knöpfte er sich das Jackett auf, während er sie weiter unverwandt ansah. Ihr Ohrhörer meldete sich noch immer nicht. Wieso zum Teufel hatte ihn noch niemand entdeckt? Der Finger auf den Lippen, die Nachricht, die jemand unter ihrer Tür durchgeschoben hatte – die Geheimnisse waren vergessen, als ihre Ausbildung das Kommando übernahm.
Zu viel passierte in viel zu kurzer Zeit. Der Dicke hielt sein Jackett auf. Er hatte etwas um seine ohnehin überdimensionierteBrust gebunden. Weiße Teile. Er lächelte wieder, neigte den Kopf und hob die linke Hand. Er hielt etwas Kleines hoch. Einen Auslösemechanismus? Sie lenkte den Blick auf das Weiße zurück. Plastik.
Wie auf Autopilot zog sie mit einer Hand die Pistole und warf gleichzeitig die Premierministerin und ihren Pressesprecher zu Boden. Sie schrie, ohne den Kopf zu dem verborgenen Mikro an ihrer Anzugjacke zu senken, aber laut genug, dass man sie auf dem Platz hören konnte. Die traurige Stimmung bekam einen Riss und das Gedenken an die Verstorbenen wurde von der kreischenden Angst des Publikums verdrängt, das sich plötzlich der eigenen Sterblichkeit bewusst wurde. Als die Zuschauer die Flucht ergriffen, wurden die Absperrgitter umgeworfen. Die Beamten, die sich unters Volk gemischt hatten, blieben stehen und sahen verdattert nach links und rechts, um herauszufinden, was die Panik ausgelöst hatte. Wie konnte es sein, dass sie ihn nicht gesehen hatten?
Abigail rannte los, noch ehe sie den Dicken wieder im Visier hatte. Aber dann entdeckte sie ihn; er entfernte sich schnell und war schon an der hintersten Absperrung. Warum hatte ihn niemand aufgehalten? Was war hier los, zum Teufel? Schliefen die alle noch, oder was? Sie donnerte über den Asphalt und schoss durch die auseinanderlaufende Menge bis zum Gitter, das sie geschmeidig übersprang. Jemand brüllte etwas in den Hörer, aber sie verstand nicht, was er sagte. Sie riss ihn aus dem Ohr. Das konnte warten.
Sie sah den Mann knapp hundert Meter weiter auf das leere Trocadero-Gebäude zusteuern. Jetzt blieb er stehen und schaute sich um. Was hatte er vor? Wartete er etwa auf sie? Ja , flüsterte eine leise innere Stimme. Natürlich wartet er auf dich. Das tut er schon
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