Die Farben der Finsternis (German Edition)
auf. Morelo war als einziges Mitglied des Inneren Zirkels anwesend; die anderen gehörten dem Ersten Zirkel an und einige wenige auch dem Zweiten.
»Er ist kein Narr.« Morelos Stimme war kaum zu verstehen, bröckelnde Rinde an einem alten Baum. »Er weiß Bescheid.«
»Stimmt, aber er weiß nicht, wen es getroffen hat, und das ist das Entscheidende.«
»Wir müssen bald nach Hause gehen«, sagte Morelo. »Was müssen wir noch alles zerstören, um seine Vergebung zu erlangen? Das Ganze? Uns selbst?«
»Wie viele Opfer verlangt er?«
»Ist der Abgesandte hier?«
»Ja, ich habe die Zeichen gesehen. Einer ist da.«
»Können wir sie sehen?«
»Ich kann hier nicht sterben.«
Mit den Stimmen brandete von allen Seiten gleichzeitig der Gestank nach toter Erde heran. Er hob eine Hand. »Ich verstehe Ihre Sorgen. Ich spüre Ihren Schmerz. Doch wir sind auf dem richtigen Weg und fast alle Puzzleteilchen sind an ihrem Platz. Die Interventionisten, bei deren Freilassung Sie mitgeholfen haben, stürzten drei bedeutende Städte ins Chaos. Das wird in anderen Städten so weitergehen. Ihre Führer werden entmachtet. Die Welt geht dem Kollaps entgegen, der ihr seit Jahren bestimmt ist, und dann dürfen wir zurück in die Heimat.« Er machte eine Kunstpause. »Doch Sie müssen sich gedulden. Und damit ich die Dinge auch während Ihrer Krankheit vorantreiben kann, brauche ich die Befehlsgewalt über einige Ihrer Unternehmen und Betriebsmittel. Die entsprechenden Unterlagen sind vorbereitet und liegen in Ihren Autos zur Unterzeichnung bereit. Die Flugzeuge warten bereits darauf, Sie in Ihren jeweiligen Sektor zurückzufliegen, sobald wir hier fertig sind. Bleiben Sie stark und warten Sie auf weitere Anweisungen.«
»Nach dieser langen Zeit kommt mir, was wir tun sollen,so geringfügig vor.« Morelo sank in seinem Stuhl zurück. »Ich hätte gedacht, er würde mehr verlangen.«
Morelo sollte sich mit dem Sterben lieber beeilen, sinnierte der Mann. Doch ihm war aufgefallen, dass es mit dem Sterben hin und wieder recht schnell gehen konnte. Vor allem bei Schwerkranken.
»Es ist lange her«, rief jemand von hinten.
»Ja, die Dinge könnten sich geändert haben.«
»Ich kann hier nicht sterben.«
Er schwieg. Die Kranken waren lästig und peinlich, aber im Augenblick brauchte er sie noch. Das hatte er im Laufe der Jahrtausende gelernt; es gab keinen stärkeren Antrieb als die Todesangst, und Sterbende ließen sich im Namen der Hoffnung leicht an der Nase herumführen. Er trank seinen Tee.
Nachdem sie weg waren, gab er seinem Bediensteten frei und ging durch die langen steinernen Gänge der Moschee. Es war noch zu früh zum Beten und seine Füße versanken beinahe lautlos in dem rot gemusterten Teppichboden. Über seinem Kopf hingen bleiche Lampen in bronzenen Körben von den Torbögen. Die Moschee war vor tausend Jahren in einem Anfall von Humor von Monmir erbaut worden. In jener Zeit hatte es in dieser Gegend, einem Teil der Medina, von Händlern gewimmelt, die Manuskripte verkauften. Deshalb leitete sich der Name des Viertels von dem Wort al-Koutoubiyyin ab, der arabischen Bezeichnung für ›Bibliothekar‹. Hinter der Fassade dieses Inbegriffs der Anbetung wurde jetzt eine der Original-Schriftrollen der Erzählung bewahrt, sicher und verehrt und nur hin und wieder von Mitgliedern des Inneren Zirkels besichtigt. Die Moschee war wahrhaftig ein historischer Ort.
Es hatte sich abgekühlt, doch für eine Jacke war es immernoch zu warm. Als er nach draußen kam, rauschte der Lärm vom Djemaa el Fna zu ihm her. Er sah dem Gewühl zu, durch das sich Hunderte von Menschen auf dem staubigen Platz drängten, und als ein leichter Wüstenwind sein Haar zerzauste, verstand er, warum Monmir diesen Teil der Welt so geliebt hatte. Auch ihn erinnerte er an längst vergessene Orte. Doch im Gegensatz zu Monmir würde er nicht darauf kommen, sich hier häuslich einzurichten. Vorbei ist vorbei.
Er schlenderte zu dem Platz und genoss die Freiheit und Wildheit dieser sandigen Stadt. Die Lichter Dutzender Essensstände schienen nach oben und bildeten einen Heiligenschein am klaren Himmel; kreischende Mopeds drängten sich durch die Akrobaten und Geschichtenerzähler, die sich bemühten, ihr Publikum zu fesseln. Andere priesen ihre Ware an und verkauften Hennatattoos, seltene Gewürze, Wasserflaschen … Selbstverständlich war die Welt wie überall auch hier kleiner geworden, und beim Anblick blasser Haut riefen die Geier gleich die einzigen
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