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Die Farben der Finsternis (German Edition)

Die Farben der Finsternis (German Edition)

Titel: Die Farben der Finsternis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Pinborough
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singen«, antwortete DeVore. »Hören Sie zu, es ist wundersam.« Irgendwo in einem wärmeren Klima setzte der Anrufer den Geräuschpegel aus der Kammer frei und ein Orchester süßer Stimmen flötete durchs Telefon.
    Einen Augenblick lang hätte der Klang beinahe an Mr Brights Herz gerührt. Solch einen Gesang hatte er sehr lange nicht mehr gehört.
    »Ist das nicht schön?«, fragte DeVore kaum vernehmlich über der Flut von Stimmen.
    Mr Bright lauschte. Ja, es war schön, aber das interessierte ihn nicht sonderlich. Was hatte es zu bedeuten? Warum fingen sie auf einmal an zu singen?
    »Behalten Sie das für sich, DeVore«, sagte er dann, »und sagen Sie mir Bescheid, wenn sie aufhören.«
    Nachdem er das Telefon abgelegt hatte, wandte er sich wieder dem Fenster zu und starrte in den Regen, um seine Gedanken zu ordnen. Irgendwas war zu dem Spiel dazugekommen. Er kochte sich einen frischen Kaffee und trank ihn nachdenklich. Schließlich lächelte er. Es war doch nett, sich ab und an überraschen zu lassen – außerdem gab es nur sehr wenige Szenarien, für die er nicht vorgesorgt hatte.

    Als er eine Stunde später am Bett des Ersten saß, wünschte er, er könnte den Ohrwurm von »Rhapsody in Blue« aus dem Kopf bekommen. Allmählich nervte ihn die Musik.

18
    Als er die Haustür hinter sich schloss, fielen Cass zwei Dinge auf: Erstens waren die Gewitter vom Morgen weitergezogen und hatten die Wärme des Altweibersommers mitgenommen. Zweitens spielte der Geiger wieder sein altes Lieblingsstück »Rhapsody in Blue.« Es dauerte einen Augenblick, bis er den Landstreicher gefunden hatte, denn er hatte ihn mehr in seiner Nähe vermutet. Doch an diesem Morgen stand er weiter oben an der Straße, was Cass sehr überraschte. Die Musik war von oben gut zu hören gewesen und selbst jetzt schien sie durch die Passanten zu wehen, als würde sie ihr Ziel kennen.
    Zwischen zwei Tönen schüttelte der Penner sein Handgelenk, sodass der Bogen sich wie zum Gruß hob, und lächelte mit seinem ganzen schmutzigen Gesicht. Cass lächelte nicht zurück. Er sollte den verrückten alten Bastard ignorieren, auf schnellstem Weg zu seinem Auto gehen und zur Arbeit fahren, wo der Chef der Anti-Terror-Division auf ihn wartete und wohin ihn der Klammergriff der Toten zerrte. Für das hier hatte er keine Zeit. Dennoch rührten sich seine Füße nicht von der Stelle.
    Scheiß drauf. Cass vergaß den Wagen und ging auf den Geiger zu, der ihm nicht etwa entgegenkam, sondern weiterlächelte und um acht Uhr morgens mitten in St. John’s Wood Jazz spielte, als wäre das die natürlichste Sache der Welt. Als er näher kam, bemerkte Cass den kleinen Berg Münzen zu Füßen des alten Mannes. Einen Augenblick lang war er überrascht. Der Alte hatte keinen Hut, keinen Teller zum Betteln hingestellt und dennoch spendeten die Menschen. Eine Frau im Hosenanzug blieb im Vorbeigehen kaum stehen, als sie eine Zwei-Pfund-Münze auf den Asphalt warf. Sie lächelte entzückt und ging weiter. Es warsehr lange her, seit Cass erlebt hatte, dass sich die Menschen auf der Straße freiwillig von ihrem Geld trennten. In schweren Zeiten wurden die Leute gemein und selbstsüchtig.
    Er sah sich den Landstreicher genauer an. Er war noch dreckiger als zuvor, und Cass meinte zu sehen, dass ein weiterer Zahn in seinem Oberkiefer fehlte. Im hellen Morgenlicht sah er Krampfadern an den Beinen, wo die zu kurze Hose nicht hinreichte. Aber offenbar machte der Verfall ihm wenig aus – die schmutzigen Finger griffen geschickt die Saiten, während sein lächelnder Blick Cass ständig fixierte.
    »Wer ist die Frau?«, fragte Cass. Er hatte keine Zeit für freundliches Geplänkel.
    »Die Frau?« Die barsche Stimme passte nicht zu den Tönen, die ihm aus den Händen flossen.
    »Am Telefon.«
    Als er noch strahlender lächelte, sah Cass den Dreck zwischen den gelben Zähnen, schwarz und erdig. Wie zum Teufel bekam man Schlamm in den Mund? Das konnte doch nur Absicht sein.
    »Die ist was Besonderes, oder?«
    »Heutzutage ist alles Mögliche anders und besonders, scheint mir.« Cass erwiderte das Lächeln nicht. Er wollte sich nicht mit dem Landstreicher anfreunden. Er wollte, dass der Alte Leine zog, anderen Leuten was vorspielte und Cass Fragen ersparte, auf die er keine Antworten fand.
    »Noch nie wurde ein wahreres Wort im Scherz gesprochen, mein Sohn.« Das schwache Lachen des alten Mannes rasselte in seiner Brust. Es erinnerte Cass an Artie Mullins, klang nach zu vielen Nächten in

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