Die Farben der Finsternis (German Edition)
zu haben –, genoss er das Kribbeln, als er ein Gefühl für die einzelnen Teile entwickelte.
»Auch wenn sie ihn vorher schon mal gesehen hat, kannte sie ihn also nicht.« Cass warf Fletcher einen Blick zu. »Ich gehe davon aus, dass sie nicht wirklich verwandt sind, oder?« Der Dicke auf dem Bildschirm sah nicht so aus, als wäre er mit irgendwem verwandt, schon gar nicht mit der langbeinigen Brünetten, die auf ihn zielte.
»Unsere Ermittlungen haben jedenfalls nichts dergleichen ergeben – aber wir haben keinen Schimmer, wer er sein könnte. Wir haben ihn von den Schienen gekratzt, aber auch mit seiner DNA ist im System absolut nichts anzufangen.«
»Was war das?« Cass hatte bemerkt, dass der Mund des Mannes zuckte. »Direkt nachdem sie ihm den Stift, oder was es ist, abnimmt – was sagt er da?«
»Ein Wort. ›Interventionist.‹ Sagt Ihnen das was?«
»Sollte es?«
»Nein, aber ich würde mich freuen, wenn irgendwer etwas damit anfangen könnte.«
Cass beobachtete immer noch die lautlose Vorstellung auf dem Bildschirm. »Er hält ihre Hand richtig lange – jedenfalls länger, als er bräuchte, um ihr den Stift zu geben. Können Sie ihr Gesicht ranzoomen?«
»Hier, bitte.«
Abigail Porters sehr viel hübscheres Gesicht ersetzte das des Dicken. Sie hatte die Augen aufgerissen und ihre Pupillen waren geweitet. Ihr Mund war leicht geöffnet, als würde sie nach Luft schnappen.
»Das ist eine Reaktion. Sehen Sie sie an, sie ist überrascht.«
Fletcher neigte den Kopf und musterte sie. »Sie haben recht. Aber warum? Hat er ihr vielleicht zusammen mit dem Stift noch etwas gegeben?«
»Und sie spürt es in der Hand? Nein, das sieht irgendwie anders aus. Spulen Sie weiter.«
Die Aufzeichnung dauerte nur noch wenige Sekunden. Der fette Mann ließ Abigails Hand los und sprang leichtfüßig vom Gleis vor die Bahn, die kreischend bremste. Beamte in Zivil rannten die Treppe runter und packten Abigail. Sie sah immer noch wie betäubt aus, wie im Halbschlaf, als würde noch nachwirken, was sie eben schockiert hatte. Einen Augenblick lang war Abigail Porter von den Absperrungen verborgen und dann zeigten die Aufzeichnungen die Panik auf dem Gleis.
»Da«, sagte Cass und zeigte auf den Bildschirm, wo Abigail Porter die Faust öffnete, bis der Stift zu sehen war. »Sie hat nichts anderes in der Hand – es sei denn, sie hat es weggesteckt, als der Zug einfuhr, aber da war Ihr Team schon bei ihr, das Risiko wäre hoch gewesen. Um ehrlich zu sein, sieht sie zu weggetreten aus, als dass sie hätte tricksen können.« Irgendwas war passiert, als der dicke Mann Abigail Porter berührt hatte – etwas, was sie kurz aus der Fassung gebracht hatte.
»Könnte er ihr irgendwas injiziert haben?«, fragte Fletcher.
»Ich wüsste nicht wie. Er hat die Hände sichtbar hochgehoben,bis er sprang. Und Sie haben keine Spritze auf den Schienen gefunden, oder?«
»Nein, und die wäre uns kaum entgangen. Er war überall verteilt.«
»Hübsch.«
»Gut, dass ich ihn nicht abkratzen musste. Ich glaube, die brauchten jede Menge Tüten.« Fletcher hielt das Video an. »Während ich mit Abigail darüber redete, tauchten Sie auf und brachten die Nachricht vom Selbstmord ihrer Schwester. Selbstverständlich bestand die Premierministerin danach darauf, dass sie wegen des Trauerfalls nach Hause ging. Sie wollte zu Fuß gehen und ich habe sie begleitet, offen gestanden auch, weil mir ihr Verhalten nicht gefallen hat. Ich wollte nachbohren – und dann hat sie mich auf einen Kaffee eingeladen. Ich bin ein paar Stunden bei ihr geblieben und dann wieder zur Arbeit gegangen.«
»Kaffee?«, fragte Cass. »In Number 10 hatte ich nicht den Eindruck, dass Sie einander sonderlich freundlich gesinnt waren.« Er wies nickend auf den Bildschirm. »Das erklärt so einiges, aber worauf ich hinauswill, ist, dass Sie Ihre feindselige Einstellung auch gespürt haben muss. Wie kommt sie also dazu, Sie einzuladen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie ausgerechnet mit Ihnen zusammen sein wollte, wenn sie trauern wollte.«
»Sie machte einen gefassten Eindruck. Ich glaube, sie machte das mit sich selbst ab.«
Cass bemerkte, dass Fletcher den Blick ein wenig nach links schweifen ließ.
»Dazu kommt, dass in unserem Job nicht hundert Leute Schlange stehen, wenn wir mal einen Freund brauchen.«
Fletcher gab sich richtig Mühe, aber er war ein schlechter Lügner. Falls Abigail Porter ihn wirklich eingeladen hatte, dann nicht auf einen Kaffee. Vielleicht
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