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Die Farben der Zeit

Die Farben der Zeit

Titel: Die Farben der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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neigte sich bedrohlich zur Seite.
    »Ich habe noch nie ein Boot zum Kentern gebracht«, erklärte Terence selbstsicher.
    »Dann warte wenigstens, bis ich die Sachen wieder aufgerichtet habe.« Ich schob das Portmanteau an seinen Platz zurück. »Professor Peddick, gehen Sie bitte auf diese Seite.« Und zu dem die Decke nachschleifenden Cyril, der sich entschieden hatte, zu uns herüberzukommen: »Platz! Sitz!«
    »Man muß bloß den richtigen Ansatzpunkt finden«, sagte Terence und verlagerte seinen Griff am Schandeckel.
    »Warte!« rief ich. »Vorsicht…«
    Terence gelang es, das Bein ins Boot zu schwingen. Er zog sich hoch und warf seinen Oberkörper auf den Schandeckel.
    »Gott selbst könnte dieses Schiff nicht versenken«, murmelte ich, das Gepäck festhaltend.
    »Alles im Lot.« Terence zog sich vollständig ins Boot. »Siehst du! Nichts passiert!« sagte er triumphierend und das Boot kenterte.
    Wie wir ans Ufer gelangten, weiß ich nicht. Ich erinnere mich, daß das Portmanteau übers Deck auf mich zuschlitterte wie der Konzertflügel auf der Titanic und daß ich eine Menge Wasser schluckte und mich an den Schwimmgürtel klammerte oder vielmehr was ich dafür hielt und was sich umgehend als Cyril herausstellte, der wie ein Stein unterging. Ich entsinne mich daran, daß ich den toten Mann markierte und daß wir schließlich alle triefend am Ufer saßen und nach Luft schnappten.
    Cyril erholte sich als erster. Er taumelte auf die Füße und schüttelte das Wasser aus seinem Fell über uns aus. Terence setzte sich auf, mit dem Blick über den Fluß schweifend.
    »›Durch finsterste, grausige Mitternacht, durch peitschenden Graupel und Schnee‹«, zitierte er, »›trieb geisterhaft und bleich das Schiff, zum Felsenriff von Normans Weh.‹« [50]
    »Naufragium sibi quisque facit«, sagte Professor Peddick.
    Terence starrte aufs Wasser. »Es ist untergegangen«, stellte er fest, genau wie Lady Astor es bei der Titanic getan hatte. Mir kehrten plötzlich die Sinne zurück, und ich stand auf und watete ins Wasser, aber vergebens. Das Boot war verschwunden. Lediglich ein angeschwemmtes Ruder ragte an der Uferböschung halb aus dem Wasser, und in der Flußmitte schaukelte Professor Peddicks Kessel. Weitere Überlebende des Schiffsbruchs gab es nicht. Von der Reisetasche war weit und breit nichts zu sehen.
    »›Der Sturm packte das Schiff mit mächtiger Faust, erschütterte es von Heck bis Bug‹«, fuhr Terence fort. »›Er nahm das Tau einer gebroch’nen Spier und band sie damit an den Mast.‹«
    Prinzessin Arjumand hatte keine Chance gehabt, so eingekeilt unter der Sitzbank. Wenn ich sie herausgelassen hätte, als sie miaute, wenn ich Terence erzählt hätte, daß ich sie gefunden hatte, wenn ich am richtigen Platz und zur rechten Zeit aufgetaucht wäre, wenn ich nicht die Zeitkrankheit gehabt hätte…
    »›Im Morgengrauen, am einsamen Strand, traute ein Fischer seinen Augen nicht recht‹«, zitierte Terence weiter, »›das Meer trieb eines Schoners Mast an Land, ein Mädchen an ihn gebunden mit Taugeflecht.‹«
    Ich drehte mich um, um ihm zu sagen, er solle endlich den Mund halten und sah hinter uns im Sternenlicht den Pavillon, zu dem ich die Katze hätte zurückbringen sollen.
    Nun, zurückgebracht hatte ich sie und dabei den Mord vollendet, den der Butler begonnen hatte. Und dieses Mal war Verity nicht in der Nähe gewesen, um sie zu retten.
    »›Das Salz der See auf ihrer Brust gefroren‹«, deklamierte Terence, »›ihre Tränen verkrustet zu salzigem Naß…‹«
    Mein Blick hing am Pavillon. Prinzessin Arjumand war unentdeckt in ihrem Weidenkorb beinahe von einem Zug überfahren worden, zweimal beinahe in die Themse gestoßen worden, einmal von Cyril und ein weiteres Mal von Professor Peddick, und alles hatte sie überlebt, nur um dann hier zu ertrinken. Vielleicht hatte T. J. recht, und sie war dazu bestimmt gewesen, zu ertrinken, gleichgültig, wie sehr Verity, ich oder sonst jemand auch herumpfuschten. Vielleicht war ihr dieses Ende vom Schicksal zugedacht. Die Geschichte, die sich wieder selbst korrigierte.
    Vielleicht hatte sie aber auch einfach kein weiteres Leben mehr übriggehabt. Ich zählte fünf ihrer neun Leben, die sie allein in den letzen vier Tagen aufgebraucht hatte.
    Ich hoffte, daß es daran lag und nicht an meiner vollständigen Inkompetenz. Aber ich glaubte es nicht. Und ich befürchtete, daß Verity es auch nicht glaubte. Sie hatte Kopf und Kragen riskiert und Dunworthys

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