Die Farben des Chaos
jedes Ding unter der Sonne, das eine Form besitzt, in gewisser Weise Ordnung in sich bergen, da es ohne Ordnung keine Form geben kann.
Ganz ähnlich muss auch jedes Ding, das lebt oder gelebt hat oder das Wärme oder Kraft abgibt, ein gewisses Maß an Chaos in sich bergen, denn ohne Chaos kann es keine Wärme, kein Licht und kein Leben geben.
Könnte man die verlorene Große Mathematik des untergegangenen Cyador anwenden, so würde man das Chaos selbst in Symbolen beschreiben, die so genau sind wie diejenigen, die man zur Berechnung der Belastung verwendet, die ein Gebäude oder eine Brücke ertragen muss; aber selbst mit solch genauen Berechnungen würde das Chaos in jeder Lage ein anderes Gesicht annehmen, so genau man auch die Objekte, in die es eindringt, zu messen, zu wiegen und zu formen versteht.
Denn dies ist die wahre Natur des Chaos: dass es zwar genau beschrieben, aber niemals vorausberechnet werden kann.
Die Ordnung dagegen kann man nie genau beschreiben, weil sie eine Form erzeugt, die von den Objekten und dem in ihnen gebundenen Chaos abhängt. Doch das Ergebnis, wenn man immer mehr Ordnung in ein Objekt hineingibt, bleibt immer das Gleiche. Leblose Dinge werden sich nicht mehr verändern, solange die Ordnung in ihnen ist, während Lebewesen an einem Übermaß der Ordnung zu Grunde gehen.
So kann man die Ordnung also vorhersagen, aber nicht beschreiben.
Bei Lebewesen führt ein Übermaß an Ordnung zum Tod, denn nichts kann leben, ohne ein gewisses Maß an Chaos in sich zu tragen. Wenn ein Lebewesen aber stirbt, dann zerfällt der Körper aus Mangel an lebenswichtigem Chaos in seine Bestandteile, in kleine Bruchstücke geordneter Objekte.
Wenn das Wesen ein großes Maß an Chaos in sich barg, wird der Zerfall so schnell vor sich gehen, dass der Körper sich in Staub aufzulösen scheint. Wo große Ordnung vorhanden ist, wird das Gleiche geschehen, denn ein großes Maß an Ordnung lässt sich in einem kleinen Bereich nicht ohne ein gewisses Maß an Chaos wahren …
Die Farbe der Weiße
(Handbuch der Gilde von Fairhaven)
Zweiter Teil
L
C erryl stand schwerfällig auf, als Gyskas die Wachstube betrat.
»Ihr seht müde aus«, sagte der ältere Magier.
»Es war ein langer Tag. Ich verbringe mehr Zeit als sonst draußen auf den Straßen. Das ist die einzige Möglichkeit, die kleinen Diebstähle unter Kontrolle zu halten.« Cerryl kam hinter dem Schreibtisch hervor.
»Ich gehe jetzt am Anfang der Schicht auch selbst raus. Die Leute sehen meistens sogar weg, wenn es nur um einen Laib Brot oder ein paar Früchte geht.«
»Abgesehen vom Bäcker«, erwiderte Cerryl. »Und die Leute stehlen nichts, wenn der Verkäufer aufpasst.«
»Das Geld wird knapp, die Leute sind hungrig. Angesichts der Probleme in Hydlen, in Spidlar und mit Recluce könnte es ein harter Winter werden.«
Cerryl nickte.
»Ich habe gehört, dass der alte Myral gestorben ist. Der Magier, der für die Abwässer zuständig war, wisst Ihr?«
»Ich kannte ihn. Ich habe viel von ihm gelernt.« Cerryl schaffte es, gleichmütig zu antworten. »In der letzten Zeit habe ich ihn nur noch selten gesehen.« Dabei hättest du ihn viel öfter besuchen sollen. Jetzt ist es zu spät. »Er war hinfälliger, als die Leute dachten.«
»So war es wohl. Er hat ja beinahe ewig gelebt. So kam es mir vor.« Gyskas lächelte kurz. »Ein guter Mann. Er hat auch mir den einen oder anderen Trick beigebracht.«
Ein guter Mann … er hat auch mir den einen oder anderen Trick beigebracht … und bald wird niemand mehr von ihm sprechen. »Ja, er war ein guter Mann.« Cerryl zwang sich zu einem gelassenen Achselzucken. »So, jetzt seid Ihr an der Reihe. Ich gehe auf dem Rückweg zu den Hallen noch einmal durch den Bezirk.«
»Wie es Euch beliebt.« Gyskas lächelte. »Dadurch wird meine Schicht weniger anstrengend. Vielen Dank.«
Draußen auf der Straße war die Luft reglos und drückend. Es war eher wie im Hochsommer als im Frühherbst. Cerryl wandte sich nach Süden.
»Der Magier … der Kleine …«
»… der harte kleine Bursche …«
Cerryl lächelte innerlich über die beiden Jugendlichen, die auf der Veranda eines Hauses saßen, ließ sich aber äußerlich nichts anmerken. Hielten sie ihn für einen harten Burschen, weil er öfter draußen auf der Straße unterwegs war? Er fühlte sich überhaupt nicht hart, ganz und gar nicht.
Bei Laufen wurde ihm noch wärmer, bis ihm der Schweiß über den Nacken und den Rücken lief.
Warum hat
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